Anwendungsfelder

Zur Notwendigkeit einer digitalen Transformation in Justiz und Verwaltung und seiner Abbildung durch den Begriff „Legal Tech“

Legal Tech in Justiz und Verwaltung

I. Lichtblicke

Langsam, aber sicher wagen sich auch Justiz und Verwaltung der Bundesrepublik Deutschland in eine digitalisierte Welt hinein. Eine Welt, in der der Staat nicht mehr nur „Zaungast“ einer technologischen Entwicklung sein kann, die er nur zum Schutz der Bürger regulieren muss, sondern in der er diese Technologien zur Verwirklichung seiner eigenen Verpflichtungen auch selbst nutzen muss. So kann als Lichtblick bezeichnet werden, dass professionelle Einreicher in der Kommunikation mit der Justiz (z.B. Einreichung von Klageschriftsätzen) seit 1. Januar 2022 eine aktive Nutzungspflicht bezüglich der Mittel des elektronischen Rechtsverkehrs trifft (Fn. 1), Online-Mahnanträge (Fn. 2) und Online-Registereinsichten (Fn. 3) sogar schon seit geraumer Zeit möglich sind und auch die E-Akte immer mehr zu Anwendung kommt (so gab es im Dezember 2021 55.000 E-Akten an ausgewählten bayerischen Gerichten, perspektivisch soll die E-Akte aber an allen Gerichten und umfassend zur Anwendung kommen) (Fn. 4). Auch bezüglich der Verwaltung zeichnet sich eine einigermaßen positive Entwicklung ab, so gaben z.B. in einer Evaluation zum E-Government-Gesetz 2019 22 % der befragten Personen in der Bundesverwaltung an, bereits auf die E-Akte umgestellt zu haben, und 40 % der befragten Personen, dass sie sich in der Umsetzungsphase der E-Akte befänden. (Fn. 5) Die Finanzverwaltung kann mit ihrem umfassenden und (für die Verhältnisse staatlicher Online-Dienste) nutzerfreundlichen Angebot ELSTER aufwarten, das berechtigterweise als ein Vorreiter (Fn. 6) digitaler Verwaltung in Deutschland bezeichnet werden kann und für das inzwischen weitreichende Nutzungspflichten (Fn. 7) der steuerpflichtigen Bürger bestehen, d.h. die Abgabe einer Steuererklärung in Papierform ist jedenfalls für Unternehmer nur noch ausnahmsweise zulässig.

II. Und doch analoge Dunkelheit

Aber ist das alles? Das heißt, kann sich der Staat damit zufriedengeben, diese Art der Entwicklung der Digitalisierung im Staatswesen gleichförmig fortzuschreiben? Nein!

Im europäischen Vergleich gemäß dem Digital Economy and Society Index (DESI) 2021 liegt Deutschland in der Gesamtnote immerhin noch auf Platz 11 von 28 und auch leicht über dem europäischen Durchschnitt. (Fn. 8) Betrachtet man jedoch hierin den Ausschnitt „digitale öffentliche Dienste“ so befindet sich Deutschland nur noch auf Platz 17 und damit unterhalb des EU-Durchschnitts. (Fn. 9) Bei einem Blick z.B. auf das untergeordnete Kriterium des Anteils der Bürger, die innerhalb eines Jahres digital mit der Verwaltung kommuniziert haben, offenbart sich, dass Deutschland zwar auf Platz 10 rangiert, jedoch einen deutlichen Abstand zu den Spitzenreitern aufweist (über 90 % in Dänemark, Finnland und den Niederlanden, 70 % in Deutschland). (Fn. 10)

Innerhalb der Gesellschaft zeigt sich hingegen bereits eine deutlich höhere Digital­befähigung, als sie der Staat an den Tag legt. So wird Deutschland in Bezug auf das Bestehen digitaler Basiskompetenzen seiner Bürger auf dem siebten Platz eingeordnet. (Fn. 11) Beispielsweise entwickelte eine zivilgesellschaftliche Initiative innerhalb kurzer Zeit ein Online-Informations­angebot für Geflüchtete aus der Ukraine, welches auf einem nutzerfreundlichen Questionnaire auf Ukrainisch beruht und viele drängende Fragen zur rechtlichen Lage und sonstige Fragen, die sich bei der Einreise in einem fremden Land stellen, zu beantworten versucht. (Fn. 12) Die Initiatoren habe sich also zum Zweck der Beratung in Not geratener Menschen den Umstand zunutze gemacht, dass Smartphones allgegenwärtig sind und digitale Serviceangebote, vor allem bei Individualisierung wie z.B. durch einen Questionnaire, besonders zur Nutzerzentrierung geeignet sind. Sie erbringen damit eine Beratungsleistung, die auch der Staat erbringen könnte (die technische Umsetzung ist sehr leicht) und zu deren Erbringung der Staat – je nach angenommenem Gewicht der staatlichen Schutzpflichten (Fn. 13) – auch verpflichtet sein könnte.

Aufgrund der inzwischen erreichten Leistungsfähigkeit digitaler Dienste (u.a. Geschwindigkeit, Datenmenge, Datenvielfalt, Ubiquität) ist ein Transformationsvorgang im Gange, der unsere Gesellschaft vollständig verändert. Verwaltung und Justiz reagieren auf diesen Vorgang bisher leider nur, anstatt zu agieren. Nicht befriedigend ist die bloße Entwicklung einzelner digitaler Werkzeuge (wie z.B. das Elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP), Online-Mahnantrag), die ausgewählte bisher analog ausgeführte Prozessschritte „auf Digital“ übersetzen. Denn es kommt vielfach zu Medienbrüchen aufgrund mangelnder Interoperabilität eingesetzter Systeme und mangels vollständiger Digitalisierung der Prozesse. (Fn. 14) Vor allem aber bleiben die staatlichen Arbeitsprozesse und Arbeitsergebnisse in Bezug auf Qualität und Geschwindigkeit immer weiter dem Möglichen zurück – der gesellschaftliche Anspruch an staatliches Tätigwerden wird damit inhaltlich nicht befriedigt. Erstaunlich ist überdies die Reaktionsgeschwindigkeit des Staates auf diesen Transformationsvorgang, z.B. eine flächendeckende Pflicht zur Nutzung der E-Akte durch die Justiz wird erst 2026 in Kraft treten (Fn. 15) – mit dieser Geschwindigkeit können weitere Digitalisierungsmaßnahmen innerhalb von Justiz und Verwaltung nicht vorangetrieben werden, ohne weit abgehängt zu werden.

Im Legal Tech-Gesetz von 2021 (Fn. 17), aber auch in anderen Gesetzen findet sich keine Legaldefinition (d.h. eine vom Gesetzgeber explizit vorgegebene Begriffsbestimmung) des Begriffs „Legal Tech“. Das Legal Tech-Gesetz stellt nur ein Artikelgesetz dar, welches Änderungen in BRAO, RVG, RDG, RDVO, EGRDG, PAO und StBerG vornimmt. Auch mussten die darin vorgenommenen berufsrechtlichen Gesetzesänderungen gar nicht an die Heranziehung von Technologie durch die betroffenen Dienstleister anknüpfen.

Jedoch hat sich in der Literatur eine relativ eindeutige Begriffsdefinition von „Legal Tech“ herausgebildet, auch wenn der exakte Wortlaut variiert. So wird Legal Tech als „Sammelbegriff für alle technologiebasierten Lösungen für Probleme mit Rechtsrelevanz“, als „Technologie­einsatz mit juristischem Bezug“, als „Informationstechnik (IT), die im juristischen Bereich zum Einsatz gelangt“, als „Software und Online-Angebote , die juristische Arbeitsprozesse unterstützen oder vollständig automatisiert durchführen“ oder als „Nutzbarmachung von Technologie für die Befriedigung von verschiedensten rechtlichen Bedürfnissen“ verstanden. (Fn. 18) Wesensmäßig sind also der Einsatz digitaler Technologie und die konkrete Ausrichtung dieser Technologie auf juristische Aufgabenstellungen. Selbstverständlich nicht unter „Legal Tech“ fallen somit alle Probleme oder Lösungen, die zwar mit digitaler Technologie und ihrer rechtlichen Einordnung zu tun haben, aber keine juristischen Arbeitsprozesse betreffen (d.h. allgemeine Rechtsfragen im Digitalisierungskontext, z.B. nach der Einordnung von digitalen Verträgen, blockchain-Technologie, Haftung bei KI-Systemen).

Innerhalb dieser weiten Definition von „Legal Tech“ werden nach herrschender Auffassung auch noch Unterdifferenzierungen zwischen den technischen Lösungsebenen (enabler, support process solutions und substantive law solutions) (Fn. 19) und zwischen den Wirkungsphasen (Legal Tech 1.0, Legal Tech 2.0 und Legal Tech 3.0) (Fn. 20) vorgenommen. (Fn. 21)

Allerdings ist stets zu beachten, dass nach der klassischen Begriffsdefinition Digitalisierungsbestrebungen in den Bereichen Justiz und Verwaltung überhaupt nicht vom Begriff „Legal Tech“ erfasst werden. Allen Definitions- und Differenzierungsansätzen liegt bereits implizit zugrunde, dass es nur um Digitalisierungsbestrebungen in Bezug auf die rechtsberatenden Berufe (Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, ggf. Inkasso­dienstleister) geht. Leeb hält dies auch für ein weiteres wesentliches Kriterium zur Abgrenzung von anderen Phänomenen der Digitalisierung im Tätigkeitsfeld von Juristen. Gerade da die Diskussionen zur Digitalisierung im Bereich der Verwaltung bereits seit langer Zeit unter den Begriffen „E-Government“ oder „Open Government“ und im Bereich der Justiz unter „E-Justice“, „Open Justice“ oder „Online Dispute Resolution“ geführt würden, würde die Anwendung des Begriffs „Legal Tech“, der erst seit 2015 in Deutschland Verwendung finde, auf diese Bereiche für Verwässerung sorgen. (Fn. 22) Dies entspricht auch der Gesetzesbegründung zum Legal Tech-Gesetz von 2021, wonach der Gesetzgeber auch implizit davon ausging, dass es „Legal Tech-Unternehmen“ gibt (es sich also um Private handelt, die digitale Dienstleistungen mit Rechtsbezug anbieten) und diese Legal Tech-Unternehmen im Bereich der Rechtsdurchsetzung sowie Rechtsberatung (als vorangehende Nebenleistung) für Private tätig werden. (Fn. 23)

Diese Engführung des Begriffs „Legal Tech“ sollte jedoch überdacht werden. Der Autor plädiert dafür, abweichend vom üblichen Begriffsverständnis von Legal Tech, künftig davon auszugehen, dass mit Legal Tech auch umfassende transformative Digitalisierungs­bestrebungen in Justiz und Verwaltung gemeint sein können. Es sollten deshalb in der Diskussion nicht mehr weiter die „angestaubten“ Begriffe „E-Government“ und „E-Justice“ verwendet werden, wenn es um die notwendige vollständige Umstellung der Prozesse in Justiz und Verwaltung auf eine digitale Arbeitsweise geht. Denn es handelt sich um einen Transformationsprozess, der sich gerade nicht darin erschöpfen darf, dass ein zuvor in Papierform eingereichter Antrag nun als PDF-Dokument über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) eingereicht werden kann, sondern viel weiter reicht. Der Prozess muss zu einem umfassenden Überdenken von Verfahrensabläufen und Entscheidungsprozessen in der juristischen Arbeit sowie des Verhältnisses Bürger-Staat unter Gewährleistung der Menschenzentrierung gem. Art. 1 I GG führen (vgl. das Konzept „Legal Design Thinking“). Es bedarf deshalb eines neuen Begriffes, welcher die Technologisierung und damit verbundene disruptive Veränderung der Arbeitsprozesse deutlich stärker in den Fokus nimmt, und nicht nur ein „E-“ an altbekannte Verwaltungs- und Justizabläufe anhängt. Der Begriff muss ein passendes Abbild für das damit verfolgte Ziel sein, nämlich Rechtskonflikte besser, schneller und einfacher zu lösen oder zu vermeiden.

Die Einführung von Legal Technology im Sinne der Einleitung einer umfassenden transformativen Digitalisierung hat das Potential, erhebliche Vorteile zum Nutzen des Gemeinwesens und der Bürger zu schaffen. Wie bei den Rechtsdienstleistern könnten auch auf staatlicher Seite im Zuge dieser Transformation interne Anwendungen eingeführt werden, die einerseits der Entscheidungsvorbereitung (z.B. bei der Dokumenten­erstellung mit automatisch erzeugten Textbausteinen, bei der Tatsachen­ermittlung in großen Datenmengen oder umfangreichen Akten), andererseits aber auch der vollautomatisierten Entscheidung und den Juristen insofern ersetzenden Arbeit dienen könnten. Aber auch im Verhältnis Bürger-Staat könnten weitere digitale Angebote eingesetzt werden, die einerseits die Möglichkeiten der Beantragung staatlichen Handelns deutlich erweitern (z.B. elektronischer Antrag auf Verwaltungsakt, gerichtlicher Rechtsschutz) und andererseits neue elektronische Kommunikationskanäle (z.B. Questionnaires, Chat-Bots) eröffnen könnten. (Fn. 24)

Die Effizienz staatlichen Handelns könnte erhöht werden, wenn Routineaufgaben nahezu vollständig automatisiert werden können. Infolgedessen könnten sich Bedienstete Zeit und Kosten bei der Erledigung von Routineaufgaben sparen, ihre Kraft somit den komplexeren Aufgaben widmen und somit insgesamt sowohl Routineaufgaben als komplexere Aufgaben schneller und qualitativ hochwertiger erledigt werden.25 Effizienzsteigerung könnten überdies mit finanziellen Einsparungspotentialen einhergehen, wenn nicht die gegenläufigen Ausgaben für Technologie und qualifiziertes IT-Fachpersonal die Einsparungen aufheben.

Mit Blick auf Systeme maschinellen Lernens erhofft man sich überdies eine gesteigerte Objektivität. (Fn. 26) Dies setzt jedoch voraus, dass die Trainingsdaten des Systems nicht bereits diskriminierende Tatsachen enthalten haben und somit nicht unfreiwillig ein zwar ein den Trainingsdaten entsprechendes, aber gesellschaftlich nicht wünschenswertes Entscheidungsmuster gelernt wurde.

Der Zugang des Bürgers zum Recht könnte durch Einsatz von IT aufseiten von Verwaltung und Justiz verbessert werden. Die verfassungsrechtliche Garantie effektiven Rechts­schutzes gem. Art. 19 IV GG ist sowohl unmittelbar im Hinblick auf den Zugang zur Gerichtsbarkeit als auch mittelbar ausstrahlend im Hinblick auf die Gestaltung eines Verwaltungsverfahrens von Bedeutung. (Fn. 27) Auch die Erweiterung der berufsrechtlichen Zulässigkeit der (auf Legal Tech basierenden) Inkassodienstleistungen sowie der Vereinbarkeit von Erfolgshonoraren durch das Legal Tech-Gesetz und die höchstrichterliche Rechtsprechung zum RDG basierten bereits unter anderem auf Erwägungen der Verbesserung des Zugangs zum Recht. (Fn. 28) Wenn der Staat Online-Portale zur Beantragung von staatlichen Leistungen oder Erlangung von gerichtlichem Rechtsschutz durch Bürger (in geeigneten Fällen) zur Verfügung stellen und die Portale so nutzerfreundlich gestalten würde, dass sie genauso einfach wie ein Amazon-Einkauf (Fn. 29) wären, würden Bürger die ihnen zustehende Rechte deutlich leichter und damit auch häufiger durchsetzen. Mit erweiterten Online-Zugängen könnten überdies wiederum Effizienzgewinne auf staatlicher Seite einhergehen, denn die Angaben könnten sofort in einer neuen elektronischen Akte verfügbar gemacht werden, die nicht mehr händisch angelegt werden müsste, und wären überdies bereits vorstrukturiert, d.h. müssten nicht erst mühsam aus formlosen Schriftsätzen entnommen werden.

Auch die Bürgerfreundlichkeit von Justiz und Verwaltung könnte durch Technikeinsatz deutlich gehoben werden, wenn z.B. Questionnaires oder Chatbots, die auf Systemen maschinellen Lernens basieren, gewisse Bürgeranfragen mit eher überschaubarer Komplexität automatisch beantworteten. Der Einsatz für Kommunikationszwecke ist dem Bürger auch nicht fremd, schließlich setzen auch viele Unternehmen bereits für den First-Level-Support Chat-Bots ein. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Chatbot „COREY“ der Landesregierung Baden-Württemberg, der Antworten zu Infektionsgeschehen und Schutzmaßnahmen geben kann. (Fn. 30)

V. Zu bewältigende Herausforderungen auf dem Weg der digitalen Transformation

Möchte der Staat zuvor genannte Anwendungen im Rahmen des digitalen Transfor­mations­prozesses erfolgreich implementieren, wird er eine Vielzahl von Herausforderungen bewältigen müssen.

Zunächst ist die Bereitschaft des Gesetzgebers erforderlich, Veränderungen an der einfach-rechtlichen Lage vorzunehmen. Das heißt, solange Verfahrensabläufe so gestaltet sind, dass sie immer wieder – an sich technisch ersetzbare – analoge Tätigkeiten erfordern (z.B. Anwesenheitspflichten, Medienbrüche etc.), gibt es keine Transformation. Sollen automatisierte Entscheidungen eingeführt würden, braucht es außerdem aufgrund der Grundrechtsrelevanz des Einsatzes automatisierter Systeme und der damit verbundenen Abwägungsentscheidung geeigneter parlamentarischer Rechtsgrundlagen (Art. 20 III GG). (Fn. 31)

Gleichzeitig müssen gesetzliche und technische Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die aus IT-Anwendungen resultierende Risiken für die Bürger zu beseitigen oder jedenfalls zu minimieren. Daten, die der Staat für die Zwecke seiner digitalen Prozessabläufe verarbeitet, müssen vor unerlaubten Zugriffen Dritter geschützt werden. Bei Heranziehung von Systemen maschinellen Lernens muss sichergestellt werden, dass die Tatsachengrundlage, aufgrund derer das System trainiert wurde, eine hinreichende Qualität aufweist und insbesondere kein Diskriminierungsverhalten perpetuiert, das bisher im analogen Verfahren aufgetreten ist, sowie dass die eingesetzten Algorithmen die gewünschten Ergebnisse erzielen.

Es bedarf überdies einer gewissen Experimentierfreudigkeit und „Entwicklungskultur“ (Fn. 32), um einen solch massiven Umbruch zu gestalten. Denn es ist gut möglich, dass es einige technische Schwierigkeiten geben wird, bis Legal Tech in Justiz und Verwaltung hinreichend funktioniert. IT-Anwendungen müssen konzipiert, entwickelt, getestet, ausgerollt und dann auch angenommen werden. Bis zu diesem Zeitpunkt wird der Staat viel Geld und seine Bediensteten einige Zeit investieren müssen, sie werden mit Rückschlägen umgehen und Verbesserungen vornehmen müssen. Es bedarf hierfür auch eines gesetzlich geschützten Raumes für technische Experimente, welche sich der Staat auch zutrauen sollte. Dafür muss die Einstellung zu staatlichem Tätigwerden geändert werden – erforderlich ist deshalb eine gewisse „Entwicklungskultur“, die auch Rückschläge zulässt, um daran wachsen zu können. Auch wenn der Staat den durch Steuereinnahmen gedeckten Haushalt nicht verschwenden darf, so erscheint andererseits eine Verweigerungshaltung gegenüber technischen Entwicklungen, die langfristig den staatlichen Haushalt entlasten können, ebenso gefährlich.

Der Staat muss zur Herbeiführung eines Transformationsprozesses, der diesen Namen verdient hat und mit der gesellschaftlichen Transformation Schritt halten kann, erhebliche Investitionen tätigen. Dies erfordert einen politischen Willen, die Priorität digitaler Transformation von Verwaltung und Justiz sehr hoch anzusetzen. So scheiterte etwa die praktische Umsetzung der im Jahr 2001 eingeführten Regelung, wonach eine mündliche Verhandlung vor Gericht mit Bild- und Ton-Übertragung gestattet ist (z.B. §§ 128a ZPO, 102a VwGO), jedenfalls bis zum Beginn der Corona-Pandemie insbesondere an der mangelnden technischen Ausstattung der meisten deutsche Gerichte mit entsprechender Konferenztechnik. Die mangelnde Ausstattung beruhte wiederum einerseits darauf, dass der Gesetzgeber eine Moratoriumsermächtigung (Fn. 33) einführte, wonach die Landesregierungen bis zum Jahresende 2017 die Nichtanwendung von § 128a ZPO durch Rechtsverordnung bestimmen durften. Außerdem wurde die gesetzgeberische Entscheidung, eine Bild- und Tonübertragung für die mündliche Verhandlung zu erlauben, die in §§ 128a ZPO, 102a VwGO klar zum Ausdruck kommt, in der Anwendung durch die Justizverwaltungen missachtet. Denn die Möglichkeit eines Richters, eine Verhandlung im Wege von § 128a ZPO anzuordnen, wurde unter einen allgemeinen Haushaltsvorbehalt in dem Sinne gestellt, dass die Anordnung nur greift, wenn Budget für die Anschaffung der Konferenztechnik vorhanden ist und somit die Technik angeschafft werden kann bzw. schon wurde. (Fn. 34)

Auch das Vertrauen der Menschen in solche IT-gestützten Systeme muss aufgebaut und erhalten werden. Der Gesellschaftsvertrag, auf welchem das staatliche Gewaltmonopol philosophisch fundiert ist, beruht nur auf der Zustimmung der Bürger dazu, eigene Naturrechte im Gegenzug für staatlichen Schutz abzugeben. Es ist die Gesellschaft der Menschen, die also dem Staat zur Geburt verholfen hat, sodass staatliches Handeln stets auf den Menschen als Subjekt staatlichen Handelns bezogen sein muss. Selbst vollautomatisierte IT-Systeme sind nur Unterstützungssysteme für Menschen. Die Gesellschaft muss deshalb darauf vertrauen, dass die Entscheidungen von IT-Systemen auf dem einprogrammierten Willen von Menschen beruhen und Letztentscheidungen stets durch einen Menschen getroffen werden. Zum Aufbau und Erhalt des Vertrauens der Menschen bedarf es deshalb Transparenz bezüglich der eingesetzten Technik, einer Verwendung der Technik nur in gut erprobten Situationen (abgesehen von den erforderlichen Experimentierräumen), eines Ausschlusses vollautomatisierter Entscheidungen auch bei weiter technologischer Entwicklung in bestimmten Bereichen (insbesondere wenn umfassende Abwägung erforderlich ist, z.B. im Rahmen der umfassenden Würdigung von Beweisen) und die stets bestehende Möglichkeit, eine Entscheidung durch einen Menschen zu verlangen (vgl. KI-Rüge, vgl. § 12 IT-Einsatz-Gesetz in Schleswig-Holstein).

Schließlich muss der Staat an einem erheblichen Ausbau der Digitalkompetenzen der Juristen, die sich noch in der Ausbildung befinden, aber auch die bereits beim Staat beschäftigt sind, arbeiten. Es bedarf eines Verständnisses für die technischen Abläufe, die IT-Systemen (wozu auch, aber nicht nur Systeme maschinellen Lernens gehören) zugrunde liegen, das über die Bedienung des eigenen Smartphones hinausgeht. Es ist im Interesse jedes Einzelnen, aber auch des Staates, dass die Beamten und Richter die technischen Hintergründe einigermaßen verstehen, damit diese die neuen Abläufe auch qualifiziert mitgestalten können und nicht in der Übersetzung von rechtlichen Anforderungen in die technische Umsetzung verloren gehen („lost in translation“).

VI. Fazit

Die Eigenschaften und Fähigkeiten digitaler Dienste haben inzwischen ein solches Maß an Veränderung althergebrachter Abläufe oder Gegebenheiten in unserer Gesellschaft verursacht, aufgrund dessen von einer Transformation unserer Gesellschaft gesprochen werden muss. Der Staat muss das aktuell bloße Reagieren auf den gesellschaftlichen Transformationsvorgang überwinden und selbst einen Prozess umfassender transformativer Digitalisierung in Justiz und Verwaltung einleiten, welche künftig auch unter dem Begriff „Legal Tech“ erfasst werden sollte. Die vielfältigen Vorzüge einer digitalen Transformation von Justiz und Verwaltung können erreicht werden, wenn der Staat sich eine gewisse technische Experimentierfreudigkeit erlaubt, zu erheblichen Investitionen bereit ist, die Digitalkompetenz der Juristen in Ausbildung und Beruf ausbaut und diverse Maßnahmen zur Gewährleistung des Vertrauens der Menschen in IT-gestützte Systeme des Staates implementiert.

Fußnoten

  1. Vgl. § 130d ZPO, § 14b FamFG, § 46g ArbGG, § 65d SGG, § 55d VwGO, § 52d FGO und § 32d StPO.
  2. Automatisiertes gerichtliches Mahnverfahren, abrufbar unter: https://www.mahngerichte.de.
  3. Gemeinsames Registerportal der Länder, abrufbar unter: https://www.handelsregister.de.
  4. Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Die elektronische Akte, abrufbar unter: https://www.justiz.bayern.de/ejustice/elektronische-akte/.
  5. Kienbaum, Evaluierung des Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25. Juli 2013, BT-Drs. 19/10310, S. 69 Abb. 20.
  6. Kube, Steuer 4.0 – Die Digitalisierung der Finanzverwaltung, S. 9, abrufbar unter: https://www.jura.uni-heidelberg.de/md/jura/news/fst/steuer_4.0_-_die_digitalisierung_der_finanzverwaltung__22.6.2021.pdf.
  7. Vgl. z.B. §§ 150 VIII AO, 25 IV 1 EStG.
  8. Europäische Kommission, Digital Economy and Society Index (DESI) 2021, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/newsroom/dae/redirection/document/80563, S. 19.
  9. Europäische Kommission, Digital Economy and Society Index (DESI) 2021, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/newsroom/dae/redirection/document/80563, S. 66.
  10. Europäische Kommission, Digital Economy and Society Index (DESI) 2021, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/newsroom/dae/redirection/document/80563, S. 67.
  11. Europäische Kommission, Digital Economy and Society Index (DESI) 2021, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/newsroom/dae/redirection/document/80563, S. 21.
  12. Vgl. https://www.immigration4ukraine.eu.
  13. Vgl. hierzu etwa die Begründung einer Schutzpflicht, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen: BVerfG, Beschluss vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18, NJW 2021, 1723.
  14. Heckmann, in: Heckmann/Paschke, jurisPK-Internetrecht, 7. Aufl., Kap. 5 (Stand: 01.06.2021), Rn. 55 ff.
  15. Vgl. § 298a Ia 1 ZPO.
  16. Heutzutage ein polemischer Begriff in der Rechtswissenschaft, der auf das Verhaften am Wortlaut bei der Auslegung von Gesetzen Bezug nimmt, also etwa Sinn und Zweck, Historie und Systematik (vgl. Savigny‘sche Auslegungskanones) außer Acht lässt.
  17. Gesetz zur Förderung verbrau­cher­ge­rechter Angebote im Rechts­dienst­leis­tungsmarkt vom 10. August 2021, BGBl. 2021, 3415 ff.
  18. Ausführlich dargestellt bei Leeb, Digitalisierung, Legal Technology und Innovation, S. 50.
  19. BCG/Bucerius Law School, How Legal Technology Will Change the Business of Law, S. 4 f.
  20. Goodenough, HuffPost v. 2.4.2015, abrufbar unter: https://www.huffpost.com/entry/legal-technology-30_b_6603658.
  21. Ausführlich zur Begriffsdefinition und Unterdifferenzierungen, vgl. Dossier „Die Geschichte von Legal Tech“, sowie „Video: Begriff und Geschichte von Legal Tech“.
  22. Leeb, Digitalisierung, Legal Technology und Innovation, S. 59 f.
  23. BReg, Entwurf eines Gesetzes zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienst­leistungsmarkt v. 20.1.2021, abrufbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/ Dokumente/RegE_Rechtsdienstleistungsmarkt.pdf;jsessionid=5A15B10A6E026331EA4C2539A7774044.2_cid324?__blob=publicationFile&v=2.
  24. Guggenberger, NVwZ 2019, 844 (847 ff.).
  25. Guggenberger, NVwZ 2019, 844 (846 f.).
  26. Niedereé/Neidl, in: Ebers/Heinze/Krügel/Steinrötter, Künstliche Intelligenz und Robotik, § 2, Rn. 62.
  27. Schulze-Fielitz, in: Dreier GG, 3. Aufl. 2013, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 87.
  28. BReg, Entwurf eines Gesetzes zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienst­leistungsmarkt v. 20.1.2021, abrufbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/ Dokumente/RegE_Rechtsdienstleistungsmarkt.pdf;jsessionid=5A15B10A6E026331EA4C2539A7774044, S. 12, 17, 25, 36; BGH, NJW 2020, 208 Rn. 196 – wenigermiete.de.
  29. Martini, DÖV 2017, 443, 447.
  30. Heckmann, in: Heckmann/Paschke, jurisPK-Internetrecht, 7. Aufl., Kap. 5 (Stand: 01.06.2021) Rn. 54.
  31. Vgl. Dossier „Legal Tech in der Praxis: Digitale Verwaltung“.
  32. So auch die bayerische Staatsministerin für Digitales Judith Gerlach: Plattform für Digitalisierung und Nachhaltigkeit, Politik muss agiler und schneller werden, abrufbar unter: https://dup-magazin.de/business-talks/politik-muss-agiler-und-schneller-werden-fordert-judith-gerlach/.
  33. Art. 9 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren.
  34. von Selle, in: BeckOK ZPO, 44. Ed. 1.3.2022, ZPO § 128a Rn. 2.2
Autor: Fabian Wiedemann

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