Methodenlehre und Justizsyllogismus: Probleme der Automation und Subsumtion

Einführung
Dieser Artikel stellt das rechtslogische Konzept des Justizsyllogismus im Zusammenhang zu den methodischen Grundlagen des Beitrags zur Aussagenlogik vor.
Diskutiert werden dabei folgende Fragen: Was ist der Justizsyllogismus? Warum ist er aus Legal Tech Perspektive relevant? Was ist Subsumtion und wie könnte sie automatisiert werden? Welchen Beitrag könnte der Justizsyllogismus und die Rechtslogik für Legal Tech- und Automatisierungsbestrebungen leisten? Welche Feldversuche gibt es in der Forschung und wo liegen die Probleme bei der automatisierten Subsumtion?
Der Justizsyllogismus
Das Grundkonzept des Justizsyllogismus ist ein deduktiver Konzeptvorschlag, demzufolge das gesamte gutachterliche Vorgehen des Juristen, vom Obersatz bis zur Subsumtion im Wesentlichen auf einen logischen Prozess heruntergebrochen werden soll. (Fn. 4) Dabei geht es hier nicht mehr um die Frage, wie eine Rechtsnorm etwa logisch repräsentiert werden könnte, sondern schon um den nächsten Schritt, was mit dieser abstrakten-genrellen logischen Beschreibung der Rechtsnorm nun angefangen werden könnte, also z.B. wie sie auf den Einzelfall logisch gültig angewandt werden könnte (ganz analog zum juristischen Gutachten). Vielleicht für den einen oder anderen überraschend, ist das Konzept des Justizsyllogismus schon seit der Antike bekannt und ist bis heute Gegenstand kritischer Reflektion in der juristischen Methodenlehre und Rechtstheorie. (Fn. 5) Da es in der Vergangenheit schwer fiel und vorallem auch unpraktikabel erschien, sämtliche juristische Abwägungsprozesse (mit allen Feinheiten und Komplikationen) in unzweifelhafte logische Form zu bringen und dann auch noch anhand der Argumentform zu einem einwandfreien Urteil oder gutachterlichen Ergebnis “logisch zu schließen”, ist der Ansatz des Justizsyllogismus bis heute umstritten.
Nichtsdestotrotz ist das vom Justizsyllogismus vorgeschlagene Konzept, in den Mittelpunkt der Abwägung die logische Argumentform zu stellen aus Legal-Tech-Perspektive hochspannend. Da ein über den Justizsyllogismus korrekt vorgenommenes „Gutachten” in der Theorie ja nicht nur logische Gültigkeit besäße sondern auch von Computern ausführbar wäre, ist die Frage nach dem potenziellen Nutzen für Automatisierungs- und Legal Tech- Anwendungen äußerst relevant.
Die Argumentform
Im Zentrum des Justizsyllogismus steht das logische Argument.
Aber was ist nun ein logisches Argument?
Im Beitrag zur Aussagenlogik hatten wir bereits elementare Aussagesätze kennengelernt, welche mit Hilfe von aussagenlogischen Verknüpfungen zueinander in Beziehung gesetzt und damit zu komplexeren Aussagesätzen verknüpft werden können.
Ein Argument im logischen Sinne ist zunächst nur eine formale Schreibweise, um solche komplexeren Aussagesätze nun wieder miteinander in Beziehung zu setzen, nämlich als Gründe für einander, bzw Prämissen und Konklusion. (Fn. 6, S. 64ff.)
Ein Beispiel für ein Argument, welches im Übrigen auch logische Gültigkeit besitzt:
Prämisse 1: Prof. Heckmann hält derzeit die Vorlesung entweder im Hörsaal im Thierschgebäude oder im Seminarraum der HfP
Prämisse 2: Prof. Heckmann hält die Vorlesung derzeit nicht im Thierschgebäude
Konklusion: Prof. Heckmann hält die Vorlesung derzeit im Seminarraum der HfP
(angenommen P1 und P2 sind wahr)
Von solch formulierten Argumenten gibt es eine ganze Typologie an logisch gültigen und logisch ungültigen (eine Auswahl). In diesem Beitrag wird allerdings nur eine Argumentform vorgestellt, welche eine anschauliche Rolle für den Justizsyllogismus spielt: der sogenannte Modus ponens.
ZUM MODUS PONENS
Ein Beispiel für den Modus Ponens (angewandt mit einer Äquivalenz in der ersten Prämisse):
P1: Ein Dreieck ist genau dann gleichseitig, wenn alle Winkel gleich groß sind.
P2: Das Dreieck ist gleichseitig.
Konklusion: Alle Winkel des gegebenen Dreiecks sind gleich groß.
im Allgemeinen:
P1: A ↔ B
P2: A
Konklusion: B
In der ersten Prämisse steht (hier) die Äquivalenz, in der zweiten Prämisse eine Feststellung, die den für die Äquivalenz relevanten Aussagesatz betrifft. Die Konklusion ist das Ergebnis aus der Verknüpfung der 1. und 2. Prämisse. (Fn. 6, S. 138ff)
Ferner kommen den einzelnen Teilen des Arguments nun in der Anwendung über den Justizsyllogismus mitunter interessante Bedeutungen zu. Demnach könnten ganze Urteile oder gutachterliche Ergebnisse der logischen Form des Modus Ponens (Fn. 5, S.372) entsprechen:
P1: Die abstrakt-generelle Rechtslage
P2: Der konkret-individuelle Fall
Konklusion: Aussagesatz, Urteil oder Ergebnis der juristischen Begutachtung
Beispiel:
P1: Alle Mörder werden wie Mörder bestraft
P2: Hans ist ein Mörder
Konklusion: Hans wird wie ein Mörder bestraft
Dabei beschreibt die erste Prämisse die abstrakt-generelle Rechtslage, wie sie aus den Rechtsquellen (z.B. Gesetzestexten) zu entnehmen ist. Die zweite Prämisse ist eine Aussage über den konkret-individuellen Einzelfall, betrifft also die Frage, inwiefern die (aus der abstrakt-generellen Rechtslage gewonnen) Tatbestände im Einzelfall tatsächlich verwirklicht sind. Je nachdem, ob die zweite Prämisse wahr oder falsch ist, liefert die Äquivalenz der ersten Prämisse ein anderes Ergebnis für die Konklusion.
Nicht umsonst werden logische Argumente „Argumente” genannt. Solche Argumentformen (insbesondere der Modus Ponens, aber auch weitere) könnten nun für die etwaige Implementierung der Funktionsweise einer Rechtsnorm in einem Computerprogramm ein vielversprechendes Paradigma (oder Grundgerüst) liefern, anhand dessen „argumentiert” werden könnte, um ein gewisses Ergebnis oder Urteil, etwa der automatisierten Subsumtion zu begründen. Die Ausführung von logisch gültigen Argumenten ist implizit in allen logisch ablaufenden Programmen der Fall, im Falle eines rechtsautomatisierenden Computerprogramms könnte man das nur im Sinne des Justizsyllogismus sehr explizit gestalten und damit die bestimmende Logik des Rechts (Tatbestand ↔ Rechtsfolge) aufgreifen und als Regelstruktur verinnerlichen.
Nachfolgend soll der gesamte Prozess von der logischen Disambiguierung bis hin zur logischen Repräsentation der Rechtsnorm und die schließliche Anwendung in einem Argument skizziert werden und insbesondere der Zwischenschritt der Klärung der Prämisse für die Subsumtion problematisiert werden.
Logische Repräsentation von Rechtsnormen
Noch bevor ein Argument konstruiert werden kann, müssen die elementaren Aussagesätze, die verwendet werden sollen, bestimmt werden und ggf. mit aussagenlogischen Verknüpfungen in Beziehung zueinander gebracht werden. Nun kann ein komplexer Aussagesatz formuliert werden, welcher hier als erste Prämisse für ein logisches Argument dienen soll und die abstrakt-generelle Rechtslage logisch repräsentieren soll.
Zur Veranschaulichung ziehen wir hier den im Beitrag zur Aussagenlogik bereits in Annäherung logisch repräsentierten § 823 BGB als Referenz heran:
Der Wortlaut:
Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
Logische Repräsentation (siehe Beitrag zur Aussagenlogik):
Damit hätten wir also eine mögliche logische Repräsentierung des §823 BGB, also der abstrakt-generellen Rechtslage bzw. der ersten Prämisse unseres logischen Arguments.
Subsumtion
Die zweite Prämisse ist der konkret-individuelle Einzelfall, also das, was als Tatbestand subsumiert werden soll. Hier geht es lediglich darum, einen Aussagesatz zu formulieren, also das Klären der Frage, inwiefern ein Lebenssachverhalt tatsächlich den in der Norm definierten Tatbeständen entspricht.
Selbst wenn eine Rechtsnorm als erste Prämisse erfolgreich logisch disambiguiert wäre und es an ihrer logischen Repräsentation keine Zweifel mehr gäbe, ist die Subsumtion des Einzelfalls für eine erfolgreiche Anwendung des automatisierten Justizsyllogismus wohl einer der schwierigsten Schritte. Die Problematik der Komplexität der juristischen Subsumtion ist nicht neu. Karl Engisch prägte hierfür den bildgewaltigen Begriff vom „Hin- und Herwandern des Blickes“ bei der juristischen Subsumtion. (Fn. 4, S.14)
Gemeint ist der durch den Juristen vorgenommene mentale Abgleich des konkret-individuellen Einzelfalls aus der Wirklichkeit mit den abstrakt-generellen Anforderungen einer Rechtsnorm. Dabei spielen die menschliche Intuition, ein weitgehendes Verständnis der echten Welt, sowie sozialer Normen, als auch die Kenntnis von rechtlichen Details (etwa divergierende Interpretationen und Normintentionen) im Kopf des Juristen eine entscheidende Rolle.
Kann dieser Schritt wirklich automatisiert werden?
Selbstverständlich könnte man für diese Aufgabe auch in einem teil-automatisierten Versuchsszenario übergangsweise auch einfach menschliche Rechtsanwälte zu Rate ziehen, welche den Lebenssachverhalt, ihrer Intuition gemäß, mit den Tatbeständen der Norm konfrontieren und ihr Ergebnis maschinenlesbar festhalten. Hochspannend wäre aber natürlich, inwiefern nicht doch eine vollständige automatische Subsumtion erreicht werden könnte, welche technischen Mittel hierfür bereitstehen und mit welchen Ergebnissen zu rechnen ist. Diese Fragen sollen im folgenden Abschnitt erörtert werden.
Automatisierte Subsumtion
Zunächst wäre es natürlich in Einzelfällen möglich, die Inhalte der zweiten Prämisse in ausreichend abgegrenzten Einzelfällen und bei vorhandenem sensorischem Messwerkzeug, einfach festzustellen. Ein Beispiel ist in einem Forschungsprojekt von Informatikern der Technischen Universität München zu finden, welche ein Modell entwickelten, um das in §5 Abs. 4 StVO festgeschriebene Überholverbot bei selbstfahrenden Autos automatisch durchzusetzen. (Fn. 7) In diesem Beispiel sind die Tatbestände in einigen Fällen einfach räumliche Situationen, in dem die Rechtsfolgen daran knüpfen, welchen Abstand ein Auto beispielsweise hält, oder in welcher Position es sich gerade befindet.
Kann eine solche räumliche Situation nun einfach (z.B. durch Abstandssensoren oder GPS) gemessen werden, könnte man möglicherweise auf eine menschliche Fallinterpretation verzichten und einfach die Messung als den, den Tatbestand betreffenden Aussagesatz für die zweite Prämisse verwenden. In diesem Zuge wären auch weitere Anwendungsszenarien, etwa mit Video- oder Bilddaten, sowie weiteren Messungen denkbar.
Im Regelfall sind die Voraussetzungen der Rechtsnormen allerdings so differenziert, dass eine bloße Messung für die Klärung der Verwirklichung der Tatbestände nicht ausreicht. In diesen Fällen muss der Fall in der Regel sprachlich beschrieben werden und eine automatisierte Subsumtion gestaltet sich deutlich schwieriger.
Die Herausforderung, Daten in, im Vorhinein festgelegte, Kategorien einzusortieren (Klassifikation), ist in der Informatik und Statistik eine wohlverstandene und etablierte Disziplin. Das Problem der Klassifikation ist auch im Zuge aktueller Machine-Learning und Statistical-Learning Bestrebungen en Vogue. Eine große Rolle spielt bei letzterem auch die Verarbeitung und Klassifikation von natursprachlichem Text. Letzterer, etwa in deutscher Sprache verfasst, könnte zu subsumierende Lebenssachverhalte detailliert beschreiben, etwa wie in einer Fallbeschreibung. Die „Klassen”, also Kategorien, auf deren Zugehörigkeit die Texte überprüft werden müssten, wären bei Versuchen der automatisierten Subsumtion wohl unsere Tatbestände, denen nach Repräsentation der abstrakt-generellen Rechtsnorm logisch wohldefinierte Rechtsfolgen zugrunde lägen.
Praktische Ansätze sind gerade im deutschsprachigen Raum noch rar, (Fn. 1) jedoch gibt es einige interessante Modellprojekte, bei denen Fallbeschreibungen und Rechtstexte im Allgemeinen computerlinguistisch analysiert werden. Ein Beispiel ist die Analyse der Satzabgrenzung in rechtlichen Texten (siehe Arbeit von Informatikern der TU München (Fn. 2)).
Ein weiterer relevanter Ansatz ist die Named Entity Recognition, bei der Referenzen zu eindeutigen, voneinander abgrenzbaren Entitäten, wie etwa Organisationen, Personen oder (im Rechtsbereich) Normzitaten im laufenden Text als solche erkannt werden sollen. (Arbeit der TU München (Fn. 3))
Konklusion: Urteil oder Ergebnis des Gutachtens
Sind die Prämissen eingesetzt und sind beide Prämissen auch wahr (und nur dann), liefert der Modus Ponens nun auch die richtige Konklusion. Im Justizsyllogismus ergäbe sich ein logisch hergeleitetes Urteil oder Ergebnis des Gutachtens:
P1 : ( ( a ∨ b ) ∧ ( c ∨ d ∨ e ∨ f ∨ g ∨ h ) ∧ i ∧ j ∧ k ) ↔ l
P2: a ∧ c ∧ i ∧ j ∧ k
Konklusion: l
Ausblick
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sich durch die Perspektive des Justizsyllogismus und der logischen Betrachtung des Rechts interessante Einblicke in den Wirkmechanismus unseres Rechts erlangen lassen. Technische Mittel sind angewesien auf ein solches logisches Verständnis des Rechts. Erst wenn rechtliche Zusammenhänge in maschinenlesbarer Sprache (egal ob explizit über logische Sprachen oder implizit erlernt in ML-Modellen) dargestellt werden können, kann die Hoffnung auf Rechtsverständnis durch Computerprogramme Realität werden. Auf dem Weg dorthin ist wohl noch viel, gleichermaßen von Juristen über die Logik im Recht, als auch von Informatikern und Ingenieuren über das sprachlich komplexe, genuin menschliche und historisch gewachsene Artefakt, das unsere Rechtsordnung ist, zu lernen.
Literaturverzeichnis
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- Glaser, I.; Moser, S. and Matthes, F. (2021). Sentence Boundary Detection in German Legal Documents. In Proceedings of the 13th International Conference on Agents and Artificial Intelligence – Volume 2: ICAART, ISBN 978-989-758-484-8; ISSN 2184-433X, pages 812-821. DOI: 10.5220/0010246308120821
- Ingo Glaser / Bernhard Waltl / Florian Matthes, Named Entity Recognition, Extraction, and Linking in German Legal Contracts, in: Jusletter IT 22 February 2018
- K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwednung, 3. Aufl. Heidelberg 1963, S.8
- T. Yuan, Automatisierung über Justizsyllogismus und Methodenlehre?, in: Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 2. Aufl. 2021, S.372
- Leitgeb H. (2016) Vorlesungsskript – Logik 1, Eine Einführung in die klassische Aussagen- und Prädikatenlogik (Ludwig-Maximilians-Universität München), Kapitel 2.1 (abrufbar auf der Internetseite des MCMP)
- Rizaldi A. et al. (2017) Formalising and Monitoring Traffic Rules for Autonomous Vehicles in Isabelle/HOL. In: Polikarpova N., Schneider S. (eds) Integrated Formal Methods. IFM 2017. Lecture Notes in Computer Science, vol 10510. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-66845-1_4