Legal Tech Projekte in der Justiz
Neben dem öffentlichen Dienst und dem Rechtsberatungssektor ist die Justiz ein weiterer Bereich, in dem Legal Tech Anwendungen Potenzial versprechen und auch bereits in Form verschiedener Projekte eingesetzt werden. Die Justiz trägt als Vermittlerin von Recht und Gerechtigkeit eine besondere rechtsstaatliche Verantwortung, an deren Maßstäben technische Innovationen vor ihrem Einsatz gemessen werden müssen. Nichtsdestotrotz sind innovative Lösungen zur Entlastung der Gerichte sowie zur Steigerung der Verfahrenseffizienz und -qualität vor dem Hintergrund steigender Fallzahlen und einer damitverbundenen Warnung des Deutschen Richterbunds vor einer „wachsenden Überlastung der Justiz“ (Fn. 1) heute dringender gefragt denn je. Nachfolgend werden einige experimentelle und erprobte Legal Tech Anwendungen aus der Justizpraxis vorgestellt.
Der elektronische Rechtsverkehr (ERV)
Unter dem Stichwort "elektronischer Rechtsverkehr" (ERV) werden verschiedene Anwendungen und Initiativen zusammengefasst, die rechtlich wirksame Kommunikation zwischen Gerichten, Behörden, Rechtsanwälten, Mandanten und Bürgern digitalisieren und damit effizienter gestalten sollen. Ihnen gemeinsam ist der standartisierte Austausch von Dokumenten und Informationen über staatlich eingerichtete und verifizeirte besondere elektronische Postfächer und Schnittstellen. Letztere werden auf der Infrastruktur des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP) betrieben und sind im sog. SAFE-Verzeichnis registriert. Zu den anerkannten Übermittlungswegen zählen derzeit (Fn. 2):
- das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA)
- das besondere elektronische Notarpostfach (beN)
- das besondere elektronische Steuerberaterpostfach (beSt)
- das besondere elektronische Behördenpostfach (beBPo)
- das besonderen elektronischen Bürger- und Organisationenpostfach (eBO)
- der Postfach- und Versanddienst eines OZG-Nutzerkontos (Mein Justizpostfach, MJP)
- der Postfach- und Versanddienst eines De-Mail-Kontos unter den Vorraussetzunges des De-Mail-Gesetzes
Der ERV ist ein zentrales Element der Justizmodernisierung und wird bundesweit bereits flächendeckend eingesetzt. Seit 2018 sind etwa Rechtsanwälte, Notare, Gerichtsvollzeher, Berhörden, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts verpflichtet, die Zustellung über den elektronischen Rechtsverkehr zu akzeptieren. Seit 2022 gilt für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts sogar die Pflicht zur elektronischen Kommunikation mit den Gerichten bei der Einreichung von vorbereitenden Schriftsätzen, Anträgen und Erklärungen. (Fn. 3) Der weitere Ausbau des elektronischen Rechtsverkerhrs findet im Rahmen der Digitalisierungsstrategie der Justiz statt. (Fn. 4)
Die elektronische Aktenführung (E-Akte)
Neben der elektronischen Kommunikation zwischen Gerichten und externen Parteien werden auch die internen Arbeitsabläufe der Justiz zunehmend digitalisiert. Die E-Akte ist ein zentrales Element dieser Bemühungen. So sieht der der Bundesgestzgeber eine vollständige Umstellung auf die elektronische Aktenführung zum Stichtag am 1. Januar 2026 für den Großteil der Gerichte vor (vgl. u.A. § 298a Abs. 1a ZPO). Die E-Akte soll die bisherige Papierakte ersetzen und die Verfahrensabläufe effizienter gestalten. Sie ermöglicht den Zugriff auf alle relevanten Informationen und Dokumente an einem zentralen Ort und erleichtert die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren.
Derzeit befindet sich die E-Akte in der Pilotierungsphase und wird im Rahmen dessen bereits an einigen Gerichten erprobt oder schon eingesetzt. Während der Pilotierung wird die E-Akte derzeit meist parallel zur Papierakte im Rahmen einer doppelten Aktenführung geführt, was mitunter zu Mehrbelastungen führte (Fn. 5). Mit der bis spätestens 2026 durchzuführenden Umstellung auf die elektronische Prozessakte entfällt die Papierakte jedoch vollständig. Für die nötige Software zur Realisierung der E-Akte haben die Bundesländer in Verbünden eigene Lösungen entwickelt. So verwenden etwa die Länder Bayern, Berlin, Brandenbrug, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz das "elektronische Integrationsportal" (eIP) (Fn. 6), während Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen, Sachsen-Anhalt, Saarland und Bremen sich für das Aktensystem "e²A" entschieden haben (Fn. 7).

Screenshot der "e²A"-Softwarelösung (Bildquelle: SINC GmbH https://www.sinc.de/wp-content/uploads/2022/03/SINC-A4Factsheet-e2A.pdf)
Experimentelle Projekte
Urteilsfindung bei Fluggastklagen
Das bayerische Justizministerium testet in einem Pilotprojekt am Amtsgericht Erding den Einsatz von KI zur Unterstützung bei der Urteilsfindung in Fluggastklagen (Fn. 10). Die Software extrahiert dabei aus langen Klageschriften die relevanten Sachverhalte – etwa Flugdistanz oder Zielort – und erstellt einen ersten Urteilsvorschlag. Die Richterinnen und Richter behalten jedoch stets die Entscheidungsgewalt, können Vorschläge anpassen oder verwerfen. Ziel ist es, Arbeitsabläufe bei häufig vorkommenden, aber arbeitsintensiven Massenverfahren effizienter zu gestalten. Während die Testphase bis Dezember 2024 läuft, findet parallel auch an anderen Gerichten, unter wissenschaftlicher Begleitung, Forschung zur Nutzung KI-gestützter Systeme statt. Die rechtlichen Rahmenbedingungen aus dem AI-Act stellen dabei sicher, dass KI nur als unterstützendes Werkzeug eingesetzt wird und alle Entscheidungen letztendlich durch menschliche Justizangehörige getroffen werden.
Generatives Sprachmodell der Justiz (GSJ)
Das Forschungsprojekt „Generatives Sprachmodell der Justiz (GSJ)“ der bayerischen und nordrhein-westfälischen Justizministerien entwickelt ein experimentelles, auf das deutsche Recht abgestimmtes KI-Sprachmodell, um zukünftig potenziell Richterinnen und Richter und weitere Justizmitarbeitende gezielt zu unterstützen (Fn. 8). Es soll komplexe juristische Texte analysieren, relevante Passagen extrahieren, Parteivorbringen strukturieren, Urteilen zusammenfassen und bei der Auswahl vergleichbarer Fälle oder Leitsätze helfen. Technisch werden dabei umfassende, anonymisierte und annotierte Rechtsdaten aus Nordrhein-Westfalen und Bayern genutzt, die mit öffentlich verfügbaren Justiztexten kombiniert werden. Zugleich berücksichtigt man bestehende E-Akten-Strukturen aus den Aktensystemverbünden und stimmt sich mit der Konzeption einer KI-Plattform für die deutsche Justiz ab.
Zum Projektumfang zählen die Auswahl passender Modellarchitekturen, Trainingsprozeduren, Domänenanpassungen und die Erprobung von Sicherheitsstrategien, etwa zur Minimierung von Verzerrungen oder zur Wahrung sensibler Informationen. Das Projekt wird durchgeführt von dem Think Tank Legal Tech und KI der Justiz NRW, der TU München und der Universität zu Köln. In Pilotstudien soll das Modell praxisnah evaluiert werden. Aus den Erkenntnissen könnten sich technische und strategische Empfehlungen für den Digitalisierungsfortschritt der deutschen Justiz ableiten lassen.
Allgemeine KI-Richterassistenz (AKIRA)
Das baden-württembergische Justizministerium entwickelt im Projekt AKIRA („Allgemeine KI-Richterassistenz“) ein KI-gestütztes Assistenzprogramm, um umfangreiche Gerichtsakten inhaltlich vorzusortieren und zusammenzufassen. (Fn. 9) Ziel ist es, Richterinnen und Richtern einen schnelleren, präziseren Zugang zum Verfahrensstoff zu ermöglichen, damit sie sich stärker auf rechtliche Würdigung und Verfahrensleitung konzentrieren können. Der erste Einsatzschwerpunkt liegt in der Sozialgerichtsbarkeit. Das Projekt wird im Rahmen der Digitalisierungsinitiative der Justiz von Bund und Ländern durchgeführt und vereint Expertise aus Verwaltung, Justizpraxis sowie Technologieunternehmen. Die letztendliche Entscheidungshoheit bleibt stets bei den menschlichen Justizangehörigen.
Digitale Rechtsantragstelle
Das Projekt „Digitale Rechtsantragstelle“ des Bundesjustizministeriums zielt darauf ab, Bürgerinnen und Bürgern eine nutzerfreundliche Online-Plattform (service.justiz.de) für verschiedene justizielle Anträge – etwa Beratungshilfe oder Erbscheine – bereitzustellen (Fn. 11). Durch verständliche Sprache, strukturierte digitale Formulare und die schrittweise Abschaffung analoger Abläufe sollen Antragstellungen vereinfacht, Bürokratie reduziert und Justizmitarbeitende entlastet werden. Erste Angebote, wie der digitale Antrag auf Beratungshilfe, sind bereits verfügbar; weitere Services sind in Entwicklung. Das Projekt ist Teil einer bundesweiten Initiative, an der mehrere Länder und Pilotgerichte beteiligt sind, um langfristig den Zugang zur Justiz effizienter, verständlicher und vertrauensbildender zu gestalten.
Zivilgerichtliches Online-Verfahren
Das Bundesjustizministerium verfolgt mit dem Projekt „Zivilgerichtliches Online-Verfahren“ das Ziel, digitale Rahmenbedingungen für den Zivilprozess zu schaffen, damit Bürgerinnen und Bürger Ansprüche nutzerfreundlich und vollständig online gerichtlich geltend machen können (Fn. 12). Ein erstes Beispiel ist ein Onlinedienst zu Fluggastrechten auf service.justiz.de, bei dem ein Vorab-Check mögliche Ansprüche prüft und Handlungsschritte – von der Kontaktaufnahme mit der Airline bis zur Einreichung einer Klage – aufzeigt. Im nächsten Schritt sollen interaktive Eingabesysteme Bürgerinnen und Bürger dabei unterstützen, auf Basis strukturierter Abfragen Klageschriften digital zu erstellen und direkt über das Justizpostfach einzureichen, um den gesamten Prozess ohne Medienbrüche zu gestalten. Expertinnen und Experten aus Pilotgerichten aus neun Bundesländern steuern laufend fachliches Feedback bei, während regelmäßig Nutzertests stattfinden. Parallel wird mittels entsprechender Gesetzesinitiativen die rechtliche Grundlage für experimentelle, volldigitale Zivilverfahren geschaffen. Das Projekt ist Teil einer bundesweiten Digitalisierungsstrategie der Justiz und wird laufend evaluiert und weiterentwickelt.
Fußnoten
- https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/drb-richterbund-uerberlastung-justiz-fallzahlen
- https://justiz.de/ervvoe/leitfaden_erv_pdf.pdf;jsessionid=6C3F51485C22C3C0D48C618659A75469
- https://www.brak.de/newsroom/newsletter/nachrichten-aus-berlin/2022/ausgabe-1-2022-v-1212022/elektronischer-rechtsverkehr-aktive-nutzungspflicht-seit-112022/
- https://www.bmj.de/DE/themen/digitales/digitalisierung_justiz/digitalisierung_justiz_node.html
- Kiesow/Till: Pilotierung und „Rollout“ der elektronischen Akte am Verwaltungsgericht Bremen, NordÖR 2019, 333
- https://ejustice.rlp.de/eakte/software-und-technische-ausstattung
- https://www.justiz.nrw/JM/schwerpunkte/modernes-arbeiten_digitalisierung/ergonomie_elektr_akte/index.php
- https://www.bmj.de/DE/themen/digitales/digitalisierung_justiz/digitalisierungsinitiative/laendervorhaben/artikel_vorhaben_06_gsj.html
- https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/assistenzprogramm-zur-aktenstrukturierung-in-der-justiz-gestartet
- https://www.sueddeutsche.de/muenchen/freising/amtsgericht-erding-kuenstliche-intelligenz-pilotprojekt-bayerisches-justizministerium-entlastung-fluggast-klagen-lux.NGXBwnXkr67ExWzgX1u5to
- https://www.zugang-zum-recht-projekte.de/digitalerast
- https://www.zugang-zum-recht-projekte.de/onlineverfahren