Digitale Gerichtsverfahren
Bildquelle: Unsplash
A. Einleitung
In einem unserer bisherigen Dossiers haben wir uns bereits mit dem Einsatz von KI und zukünftigen Anwendungen in der Justiz beschäftigt. Wir konnten sehen, dass KI in anderen Ländern bereits eingesetzt wird und auch in Deutschland Chancen, Risiken und enorme Entwicklungspotentiale bestehen. Dagegen beschäftigen wir uns in diesem Beitrag mit der Gegenwart der Digitalisierung, der gerade in Zeiten der Corona-Pandemie große Bedeutung zukommt. Wir wollen überprüfen, inwieweit Gerichtsverfahren schon heute digital funktionieren und welche Möglichkeiten die Prozessordnungen für elektronische Verfahren vorsehen.
B. Digitale mündliche Verhandlung, § 128a ZPO
Während andere Länder wie die USA, die Schweiz oder China schon weitgehend digitale Lösungen für Gerichtsverfahren anbieten und diese per Videokonferenz streamen, Klageeinreichungen per App für einen digitalen Prozess ermöglichen oder auf Basis von schriftlich eingereichten Texten urteilen, fehlt in Deutschland ein vergleichbares Verfahren (Fn. 1). Dabei gibt es beispielsweise mit § 128a ZPO bereits seit 2013 eine Vorschrift in der Zivilprozessordnung (ZPO), die ein mögliches digitales Verfahren zumindest vermuten lässt:
(1) Das Gericht kann den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen.
(2) Das Gericht kann auf Antrag gestatten, dass sich ein Zeuge, ein Sachverständiger oder eine Partei während einer Vernehmung an einem anderen Ort aufhält. Die Vernehmung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Ist Parteien, Bevollmächtigten und Beiständen nach Absatz 1 Satz 1 gestattet worden, sich an einem anderen Ort aufzuhalten, so wird die Vernehmung auch an diesen Ort übertragen.
(3) Die Übertragung wird nicht aufgezeichnet. Entscheidungen nach Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 Satz 1 sind unanfechtbar.
Schon die Durchsicht der Vorschrift zeigt, dass hier keine vollständige digitale Verhandlung ermöglicht wird. Denn der Sitzungsort der Verhandlung (§ 219 Abs. 1 ZPO) wird durch die Vorschrift nicht verändert (Fn. 2). Das Gericht verhandelt also weiterhin regulär vor Ort, ermöglicht aber zeitgleich die Zuschaltung einzelner Parteien, Bevollmächtigter, Beistände, Zeugen oder Sachverständiger per Videokonferenz. Das zeigt sich schon daran, dass § 128a ZPO die Zuschaltung der Parteien, Zeugen oder Sachverständigen ermöglicht, aber nicht des Gerichts. Dabei wird die Sitzung per Stream zu den beteiligten Teilnehmenden gestreamt, die das Geschehen im Gerichtssaal verfolgen können müssen, (Fn. 3) während das Bild der Beteiligten gleichzeitig in den Gerichtssaal übertragen wird. Eine öffentliche Zuschaltung kann nur am Gerichtsort und nicht am Ort der Beteiligten erfolgen, da so die Kontrollfunktion über die Öffentlichkeit durch das Gericht erhalten bleibt (Fn. 4).
Auch für die digitale Beweisaufnahme und Zeugenvernehmen kommen nach § 128a Abs. 2 ZPO die gleichen Grundsätze zur Anwendung, die eine Zuschaltung per Videokonferenz ermöglichen, solange gleichzeitig die Gerichtsverhandlung vor Ort stattfindet (s.o.).
Auch in anderen Bereichen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab: ähnliche Vorschriften finden sich auch in anderen deutschen Verfahrensordnungen, so z.B. § 102a VwGO im Verwaltungsrecht oder §§ 58b, 247a Abs. 2 StPO im Strafrecht (Fn. 5). Bemerkenswert ist, dass im Rahmen der Corona-Pandemie im Jahr 2020 vorübergehend Gesetzesänderungen im Arbeitsrecht (§ 114 ArbGG) und Sozialrecht (§ 211 SGG) in Kraft traten, die es ermöglichten, dass ehrenamtliche Richter im Einzelfall von außerhalb des Gerichtsgebäudes entscheiden konnten, wenn es andernfalls nicht zumutbar wäre und eine Teilnahme der Beteiligten konnte vom Gericht gestattet werden, sodass erstmals eine Art virtueller Gerichtssaal möglich wurde (Fn. 6) Die Vorschriften galten nur befristet im Rahmen der Corona Pandemie bis zum 31.12.2020, zeigen aber potentielle Entwicklungen für die Zukunft auf und offenbarten technische und budgetäre Probleme der Umsetzbarkeit (Fn. 7).
Neben dem digitalen Verfahren und der digitalen Beweisaufnahme gibt es weitere einzelne Vorschriften, die eine Digitalisierung zulassen, so z.B. die mögliche elektronische Einreichung von Dokumenten wie Schriftsätzen und ihre Anlagen, Anträge und Erklärungen sowie einzureichende Auskünfte, Aussagen, Gutachten, etc. nach § 130a Abs. 1 ZPO, wobei die Übertragung auf einem sicheren Übertragungsweg erfolgen muss. Sichere Übertragungswege sind z.B. die Nutzung eines De-Mail-Kontos oder des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs, § 130a Abs. 4 ZPO. Eine zielgerichtete Volldigitalisierung der Justiz liegt aber noch in weiter Ferne.
C. Elektronische Akte, § 298a ZPO
Ankerpunkt der Digitalisierung in der Justiz ist die elektronische Akte. Diese wird in § 298a ZPO geregelt. Zeitlich sieht § 298a Abs. 2 S. 1 ZPO vor, dass die Prozessakten jedenfalls ab dem 1.Januar 2026 elektronisch geführt werden müssen. Gleichzeitig werden Bund und Länder dazu ermächtigt, durch Rechtsverordnung die elektronische Aktenführung schon vor 2026 für ihren jeweiligen Bereich anzuordnen, wobei eine Zulassung auch auf einzelne Gerichte oder Verfahren beschränkt werden kann (Pilotprojekte) (Fn. 8). So zeichnet sich ab, dass die Justiz in Deutschland jedenfalls bis 2026 digitalisiert werden muss und einige Prozesse effektiver und nachhaltiger gestaltet werden können. Gleichzeitig sehen Einige die technische Ausgestaltung der elektronischen Akte kritisch, da die Umsetzung derzeit mit der Überführung von Dokumenten im Pdf-Format geplant ist. So werden viele Möglichkeiten der Digitalisierung und von Legal-Tech Anwendungen nicht genutzt (Fn. 9). Zwar bietet eine solche Umstellung erhebliche Vorteile gegenüber der analogen Ausgestaltung, jedoch führt die Nutzung unstrukturierter Dateiformate wie PDF’s dazu, dass potentielle Chancen nicht genutzt werden (Fn. 10). Auch wir beschäftigen uns im Rahmen der Legal Tech Expedition mehrfach mit Künstlicher Intelligenz, Natural Language Processing und Legal Tech Anwendungen der Zukunft. Dabei strukturierte maschinenlesbare Daten elementar wichtig, um Algorithmen immer genauer und besser ausgestalten zu können, sodass wir die Potentiale der Technik auch in der Justiz und im Bereich Legal-Tech nicht ungenutzt lassen und auch unterstützende Gerichtsanwendungen die Vorträge der Parteien gleich ordnen und darstellen können. Es bleibt abzuwarten, wie die elektronische Akte letztlich technisch genau ausgestaltet wird und ob solche strukturierten Anwendungen ermöglicht werden. Im Rahmen eines Pilotprojektes wird derzeit das sog. Basisdokument gestestet (Fn. 11). Hierbei handelt es sich um ein digitales Dokument zur Strukturierung der Parteivorträge in einem Gerichtsverfahren. In einem “Reallabor” testen die Landgerichte Hannover, Landshut, Osnabrück und Regensburg dieses Basisdokument im Echtbetrieb (Fn. 12).
D. Online Klageverfahren und Mahnverfahren
Ein Online-Klageverfahren oder eine Online-Klage existieren nach oben dargestellten Grundsätzen nicht. Dennoch gibt es Bereiche für Bürger*innen, die schon heute elektronisch und automatisiert ablaufen. Ein Beispiel dafür ist das elektronische Mahnverfahren. Das Mahnverfahren ist ein gerichtliches Verfahren für die vereinfachte Durchsetzung von Geldforderungen nach den §§ 688ff. ZPO. Bei Bestehen einer Geldforderung kann man gegen den Schuldner den Erlass eines Mahnbescheids beantragen (vgl. § 688 Abs. 1 ZPO, 690 ZPO). Dieser enthält die Bezeichnung der Parteien, des zuständigen Gerichts, die Bezeichnung des Anspruchs und die Angabe der verlangten Leistungen mit Angabe des Vertragsschlusses (vgl. § 690 ZPO). Auf Grundlage dieses Antrags wird dann ein Mahnbescheid erstellt und zugestellt (§§ 692f. ZPO). Dieser enthält die dargestellte Forderung und die gleichzeitige Aufforderung zur Zahlung innerhalb von zwei Wochen, wenn nicht der Empfänger Widerspruch gegen den Anspruch erhebt. Akzeptiert der Empfänger des Mahnbescheids die Forderung also nicht und erhebt Widerspruch (§ 694 ZPO), folgt ein normales Gerichtsverfahren (§696 ZPO). Erhebt der Empfänger keinen Widerspruch und reagiert nicht auf den Mahnbescheid innerhalb von zwei Wochen folgt nach weiterem Antrag ein Vollstreckungsbescheid (§699 ZPO), auf Grundlage dessen der Antragsteller seine Forderung dann z.B. mittels Gerichtsvollzieher vollstrecken lassen kann. Das Besondere am Mahnverfahren ist dabei, dass das Gericht den Anspruch des Mahnbescheids nicht prüft und ohne Gerichtsverfahren und hohe Kosten ein vollstreckungsfähiger Titel erlangt werden kann. Gleichzeitig kann sich der Schuldner wehren, indem er Widerspruch erhebt und dein ordentliches Gerichtsverfahren durchführen lassen. Dieser Ablauf erfolgt in Deutschland (optional) elektronisch und automatisiert. Auf der Seite Online-Mahnantrag.de kann man interaktiv einen Antrag auf erlass eines Mahnbescheids stellen und das automatisierte gerichtliche Mahnverfahren in Gang setzen (Fn. 13).
E. Fazit
Der Überblick über einige ausgewählte Beispiele zeigt, dass die Digitalisierung in der Justiz nicht still steht und einige kleine Änderungen und Rahmenbedingungen digitale Lösungen zulassen. Auch die Einführung der elektronischen Akte ist grundsätzlich zu begrüßen. Gleichzeitig zeigt sich auch, dass nur Teilaspekte digitalisiert sind und größere Potentiale ungenutzt bleiben und ggfs. auch für die Zukunft nicht ausreichend mitgedacht werden. Hier bleibt abzuwarten, wie die weitere Entwicklung der Digitalisierung fortschreitet und, ob sie so mitgedacht wird, dass der Nutzen von KI, NLP und Legal-Tech-Anwendungen in Zukunft realisiert werden kann.
Fußnoten
- https://legal-analytics.tech/virtuelle-gerichtsverhandlungen-kurzfristiges-provisorium-oder-dauerloesung/.
- Fritsche, MüKO ZPO, § 128a ZPO Rn. 4.
- Fritsche, MüKO ZPO, § 128a ZPO Rn. 6.
- Stadler, Musielak/Voigt ZPO, § 128a ZPO Rn. 2.
- vgl. Fritsche, MüKO ZPO, § 128a ZPO Rn. 2.
- M. Quarch, Gerichtsverfahren quo vaditis`Die Digitalisierung der Justiz – aktuelle Gedanken, LR 2020, S. 224-228 Rn. 3.
- M. Quarch, Gerichtsverfahren quo vaditis`Die Digitalisierung der Justiz – aktuelle Gedanken, LR 2020, S. 224-228 Rn. 4.
- Kießling, Saenger ZPO, § 298a ZPO Rn. 2.
- Greger: Der Zivilprozess auf dem Weg in die digitale Sackgasse (NJW, 2019, 3429).
- Vgl. dazu Martin Fries: https://www.youtube.com/watch?v=rPDnZSEa–E&list=PLtTfF9gcZMIEQ6UWmWgwveZyq4BUq1SBl&index=8.
- https://www.uni-regensburg.de/assets/forschung/reallabor-informationen/Update_Reallabor.pdf.
- https://app.parteivortrag.de/.
- Vgl. dazu: https://www.mahngerichte.de/verfahrensueberblick/verfahrensablauf/antrag-auf-erlass-eines-vollstreckungsbescheids/; ausführlich zum Verfahren die Informationsschrift und Anwendungshilfe der Justizverwaltungen der Bundesländer: Die maschinelle Bearbeitung der Mahnverfahren (§§ 688ff. ZPO), abrufbar: https://www.mahngerichte.de/wp-content/uploads/Infobroschuere_2021.pdf.