Dossier: Aktuelle Rechtsprechung zu Legal Tech

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Die Veränderungen auf dem Markt der Rechtsdienstleistungen, die Legal Tech mit sich bringt, werfen eine Vielzahl neuer Rechtsfragen auf. Die Verfolgung der aktuellen Rechtsprechung zu Legal Tech ist deshalb für Theorie und Praxis von großer Bedeutung. Über die bedeutendsten Entscheidungen der letzten Jahre soll im Folgenden ein Überblick nach thematischen Schwerpunkten gegeben werden.
A. Rechtsdienstleistungen im Rahmen von „Verbraucher-Inkasso“
Einer der wesentlichen Geschäftsmodelle im Legal Tech Bereich stellen sog. Inkassodienstleistungen für Verbraucher dar. Ein wesentlicher Streitpunkt hierbei war lange Zeit, inwieweit die Inkassounternehmen neben der Forderungseinziehung auch Rechtsdienstleistungen erbringen dürfen. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) in Sachen Lexfox/wenigermiete.de im Jahr 2019 war der erste Fall mit Legal-Tech-Bezug vor dem obersten deutschen Zivilgericht und wurde dementsprechend mit großer Spannung in der deutschen Rechtswissenschaft erwartet. Es war der Auftakt für eine Reihe von weiteren Entscheidungen rund um die Reichweite sog. Inkassolizenzen von Legal-Tech-Unternehmen.
I. „Lexfox /wenigermiete.de I“ - (BGH-Urteil vom 27.11.2019, Az. VIII ZR 285/18)
1. Sachverhalt
Die Lexfox GmbH, früher Mietright GmbH, macht für Mietende Ansprüche gegen Vermietende und Vermieterinnen geltend. Dabei treten Mietende ihre Ansprüche an Lexfox ab, die dann gegen die Zahlung eines Erfolgshonorars gegen Vermieter vorgeht. Sie bietet über die von ihr betriebene Internetseite "www.wenigermiete.de" unter anderem die softwarebasierte Möglichkeit an, nach Eingabe entsprechender Wohnungsdaten mittels eines "Mietpreisrechners" online – zunächst unentgeltlich – die ortsübliche Vergleichsmiete nach dem Mietspiegel für eine den Angaben entsprechende Wohnung zu ermitteln.
Nach Durchführung der Berechnung besteht für die Anwendenden weiter die Möglichkeit, Lexfox mit der außergerichtlichen Durchsetzung von Forderungen zu beauftragen. Weigert sich der Vermieter oder die Vermieterin, beauftragt LexFox auf eigene Kosten einen Vertragsanwalt oder eine Vertragsanwältin mit der gerichtlichen Durchsetzung der Ansprüche.
Als Vergütung ("Provision") erhält Lexfox im Falle des Erfolges ihrer außergerichtlichen Bemühungen einen Anteil an der erreichten Mietrückzahlung. Bleiben die Bemühungen erfolglos, entstehen für die Mietenden – auch in den Fällen der Beauftragung eines Rechtsanwalts oder einer Rechtsanwältin und der gerichtlichen Geltendmachung der Forderungen – keine Kosten.
2. Rechtliche Fragestellungen
Lexfox kann die Forderungen von Mietenden nur dann geltend machen, wenn diese wirksam an Lexfox abgetreten worden sind. Die Forderungsabtretung ist aber nur wirksam, wenn sie nicht gegen das Verbot der Erbringung unerlaubter Rechtsdienstleistungen gemäß § 3 Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) verstößt. Das RDG regelt gemäß § 1 I die Befugnis, in Deutschland außergerichtliche Rechtsdienstleistungen zu erbringen. Es dient gemäß § 1 I Satz 2 dazu, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen. Eine Rechtsdienstleistung ist gemäß § 2 I RDG jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert.
Als Verbotsgesetz mit Erlaubnisvorbehalt verbietet das RDG grundsätzlich in § 3 RDG die Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen, es sei denn, diese ist ausdrücklich erlaubt. Eine solche Erlaubnis haben primär Anwälte und Anwältinnen, für bestimmte Tätigkeiten gem. § 10 I S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 II S. 1 RDG auch Inkassounternehmen. Diesen ist es gestattet, in gewissem Umfang Rechtsberatung zu leisten, dies jedoch nur als Nebenleistung in Bezug auf eine einzuziehende, bereits entstandene Forderung. Hier handelt Lexfox mit einer solchen Inkassolizenz und dadurch mit dem Recht, aufgrund besonderer Sachkunde über die bloße Forderungseinziehung hinaus auch damit zusammenhängende Rechtsberatung anzubieten.
Den Mietpreisrechner konnten Nutzende jedoch unabhängig einer späteren Forderungseinziehung kostenlos auf der Internetseite von Lexfox nutzen. Fraglich war vorliegend, ob das Angebot eines „Mietpreisrechners“ von Lexfox noch Teil der Forderungseinziehung und damit von der ihr erteilten Inkassolizenz gedeckt war.
3. Instanzenzug und bisherige Entscheidungen
Das AG Lichtenberg (Urteil vom 7. November 2017, 6 C 194/ 17) gab der Klage von Lexfox in erster Instanz Recht. Das Problem einer möglichen Rechtsberatung durch den Mietpreisrechner wurde im Urteil jedoch nicht angesprochen, sondern nur die generelle Zulässigkeit der Forderungseinzug aufgrund der Inkassolizenz von Lexfox.
Dem widersprach das LG Berlin (Urteil vom 28. August 2018 – 63 S 1/18) in der Berufung. Der „Mietpreisrechner“ stelle eine Rechtsberatung dar, da er (automatisch) die Subsumtion der Angaben der Nutzenden unter die Voraussetzungen der Mietpreisbremse vornehmen würde und dabei auch die Besonderheiten der jeweiligen Wohnung und deren Merkmale berücksichtigen würde. Da diese Einordnung unabhängig von einer späteren Beauftragung zur Inkassodienstleistung durchgeführt werde, sei dies nicht von den Erlaubnistatbeständen des § 10 I S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 II S. 1 RDG gedeckt und stelle somit eine unzulässige Rechtsdienstleistung dar. Die (spätere) Forderungsabtretung sei somit aufgrund von § 134 i.V.m. §§ 3 RDG nichtig.
4. Höchstrichterliche Entscheidung
Der Rechtsauffassung des LG Berlin widersprach der BGH schließlich in seinem vielbeachteten Urteil (Urteil vom 27. November 2019 – VIII ZR 285/18 –, BGHZ 224, 89-177). Grundsätzlich sei von der Nichtigkeit der Forderungsabtretung gem. § 134 BGB auszugehen, wenn die Tätigkeiten des Inkassodienstleisters nicht von vornhinein auf eine Forderungseinziehung, sondern etwa auf die Abwehr von Ansprüchen oder andere Rechtsberatung gerichtet sind. (zur Abwehr von Ansprüchen s.u.: Lexfox II) Der „Mietpreisrechner“ sei jedoch (noch) von der Inkassolizenz von Lexfox gem. § 10 I S. 1 Nr. 1 RDG gedeckt, da dessen „Berechnung“ in engem Zusammenhang zur späteren Forderungseinziehung stehe. Der BGH zog für die Begründung dieser Beurteilung die Zielsetzung des Gesetzgebers und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heran. Demnach haben die Regelungen des RDG eine grundlegende, an den Gesichtspunkten der Deregulierung und Liberalisierung ausgerichtete, die Entwicklung neuer Berufsbilder erlaubende Neugestaltung des Rechts der außergerichtlichen Rechtsdienstleistungen zum Ziel. Der Begriff der Rechtsdienstleistung in Gestalt der Inkassodienstleistung ist deswegen nicht in einem zu engen Sinne zu verstehen.
Der BGH betont jedoch, dass sich für die Beurteilung der Legalität der Tätigkeit eines registrierten Inkassodienstleisters „keine allgemeingültigen Maßstäbe aufstellen lassen". Erforderlich sei eine "Würdigung der Umstände des Einzelfalls einschließlich einer Auslegung der hinsichtlich der Forderungseinziehung getroffenen Vereinbarungen". Dabei seien auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Das Urteil „Lexfox/ wenigermiete.de I“ war folglich nicht der Abschluss der Rechtsstreitigkeiten um die Grenzen der Inkassodienstleistungen, sondern erst der Auftakt.
II. Ähnliche Urteile
1. „LexFox II“ – BGH (Urteil v. 19.01.2022; Az. VIII ZR 122/21)
So war das Angebot von Lexfox auch Gegenstand eines weiteren höchstrichterlichen Urteils des BGHs (Urteil v. 19.01.2022; Az. VIII ZR 122/21). Grundlage bildete auch hier die sog. Mietpreisbremse. Nutzende konnten auf der Seite wenigermiete.de Lexfox bei unzulässig hoher Miete damit beauftragen, die Unwirksamkeit der Miethöhe feststellen zu lassen bzw. die zuviel gezahlte Miete der Vergangenheit zurückzufordern. Darüber hinaus bot Lexfox auch an, eine Minderung der Miete auf das zulässige Maß für die Zukunft einzufordern. Fraglich war, ob dies noch als Inkassodienstleistung oder schon als Anspruchsabwehr zu sehen sei. Eine solche Abwehr von Ansprüchen wäre nicht mehr von der Inkassolizenz gedeckt und die damit verbundene Forderungsabtretung bezüglich der früheren Mieten dadurch nichtig (siehe dazu auch die Ausführungen zum BGH-Urteil „Lexfox I“ zuvor). Das LG Berlin (Urteil vom 29. April 2021, 67 S 154/19) war der Auffassung, dass die Dienstleistung von Lexfox hauptsächlich auf die Abwehr zukünftiger, überhöhter Mieten ausgerichtet und damit gem. § 3 RDG unzulässig sei. Der BGH widersprach der Auffassung des Berufungsgerichts. Bei der Aufforderung, die Miete auf das zulässige Maß herabzusetzen, handele es sich nicht um eine Abwehr von Ansprüchen des Vermieters oder der Vermieterin, sondern vielmehr um eine im engen Zusammenhang mit der Mietrückforderung stehende Maßnahme. Diese habe nur zum Ziel, die zukünftige Geltendmachung weiterer Rückzahlungsansprüche entbehrlich zu machen. Damit sei die Aufforderung zur Mietpreissenkung Teil der Forderungseinziehung und somit gem. § 10 I S. 1 Nr. 1 RDG zulässig.
2. „VINQO“ – BGH (Urteil v. 07.03.2023 – Az. VI ZR 180/22)
Ebenfalls erhebliche praktische Relevanz hat die Regulierung von Unfallschäden durch Legal-Tech Unternehmen, welche oft eine Abwicklung sämtlicher Schadensansprüche den Unfallgeschädigten anbieten. Eine solche Konstellation lag auch dem Urteil des BGH zugrunde. Hier hatte ein Legal-Tech Unternehmen (VINQO.de) eine Haftpflichtversicherung auf die Zahlung der außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten verklagt, welche bei der außergerichtlichen Durchsetzung der Schadensersatzansprüche eines Motorradfahrers angefallen waren. Diese hatte das Legal-Tech Unternehmen übernommen und sich dafür vom Unfallopfer eine Erfolgsprovision i.H.v. 15% der erstrittenen Summe sowie die Abtretung der Ansprüche auf Erstattung der Rechtsverfolgungskosten versprechen lassen. Im Gegenzug sollte dem Unfallopfer keine Kosten entstehen, falls VINQO mit der Durchsetzung der Ansprüche scheitern sollte. Strittig war dabei, ob (1) Inkassounternehmen die Abwicklung der gesamten Schadensersatzansprüche, auch von Schmerzensgeldansprüchen, aus einem Unfall übernehmen dürfen und (2) inwieweit eine Kombination aus Erfolgshonorar und Abtretung von Erstattungsansprüchen zulässig sei.
Das AG Karlsruhe-Durlach (Urt. v. 15.4.2021 – Az. 2 C 49/21) sowie das LG Karlsruhe (Urt. v. 6.5.2022 – Az. 20 S 35/21) bejahten die Zulässigkeit der Unfallschadenregulierung auf Basis einer Inkassolizenz nach § 10 I 1 Nr. 1 RDG sowie die Zulässigkeit der kombinierten Vereinbarung von Erfolgshonorar und Kostenfreiheit bejaht. Dem schloss sich der BGH in seinem Urteil an. Der Begriff der Inkassodienstleistungen i.S.d. § 2 II 1 RDG sei weit auszulegen und umfasse auch substantielle Rechtsberatung im Rahmen der außergerichtlichen Forderungseintreibung. Dem stehe auch nicht entgegen, dass bei der Regulierung von Unfallschäden durchaus komplexe Rechtsfragen vorkommen können. Bei der Vereinbarung von Kostenfreiheit und Erfolgshonorar handle es sich ebenfalls um eine zulässige Variante, insbesondere weil ein Interessenkonflikt nicht ersichtlich sei.
Insgesamt setzt der BGH also hinsichtlich des Gebiets der Unfallschadenregulierung durch Legal-Tech Unternehmen seine liberalisierende Linie weiter fort.
III. Fazit
Die Gerichte, insbesondere der BGH, haben in den letzten Jahren vielfach zugunsten der Legal Tech Unternehmen geurteilt. Große Bedeutung hatte dabei die Ausweitung der Befugnisse der Inkassounternehmen, Rechtsdienstleistungen nicht nur im engen Rahmen der Forderungseinziehung durchzuführen, sondern auch schon im Vorfeld, insbesondere im Bereich der Kundenakquise, solange dies im direkten Zusammenhang zur späteren Inkassodienstleistung stehe. Aber auch die Erweiterung auf die teilweise mögliche Abwehr zukünftiger Ansprüche ist bedeutsam, da Rückforderungen meist wenige Monate betreffen, während die ersparte zukünftige Miete mehrere Jahre umfassen kann und somit auch die Provisionen der Unternehmen höher ausfällt (Lexfox verlangte etwa ein Drittel der ersparten Jahresmiete). Nach den Grundsatzurteilen des BGH setzt sich die liberalisierende Linie der Rechtsprechung auf dem Gebiet des Verbraucher-Inkassos fort. Es sind jedoch weiterhin Streitigkeiten rund um die Prüfung des Sachkundenachweises zu erwarten, insbesondere, da die Legal-Tech Unternehmen sich in komplexere Rechtsgebiete vorwagen.
B. Sammelklage-Inkasso
Während bei den oben vorgestellten Inkassodienstleistungen nur Forderungen einzelner Personen geltend gemacht werden, werden bei sog. Sammelklage-Inkasso gleichartige Forderungen einer Vielzahl von Personen gebündelt geltend gemacht bzw. eingeklagt. Inwiefern ein solches Vorgehen von Inkassolizenzen i.S.d. § 10 I S. 1 Nr. 1 RGD gedeckt ist, ist Streitpunkt einer Vielzahl von Verfahren.
I. „Airdeal“ - BGH (Urteil vom 13. Juli 2021 – II ZR 84/20 –)
1. Sachverhalt
Das klagende Inkassounternehmen machte in diesem Fall abgetretene Schadensersatzansprüche von Fluglinienkunden und -kundinnen geltend. Diese hatten einer Fluglinie Vorauszahlungen für Flüge geleistet, die anschließend aufgrund der Insolvenz der Fluglinie nicht mehr durchgeführt wurden. Aufgrund der Zahlungsunfähigkeit der Fluglinie richteten sich die Ansprüche gegen den ehemaligen Exekutive Director aufgrund einer mutmaßlichen Insolvenzverschleppung. Die Klage bündelte dabei die Ansprüche von sieben Kunden und Kundinnen, es handelte sich somit um ein sog. Sammelklage-Inkasso.
2. Rechtliche Fragestellung
Die rechtliche Bewertung eines solchen Sammelklage-Inkasso war und ist strittig und Gegenstand vieler Urteile. Fraglich ist hierbei wieder, ob eine solche gebündelte Geltendmachung von Forderungen von dem Erlaubnistatbestand des § 10 I 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 II 1 RDG im Rahmen einer Inkassolizenz gedeckt ist und ob mögliche Interessenskonflikte im Rahmen der Sammelklage nicht als Unvereinbarkeit i.S.d. § 4 RDG zu werten sind. Nur wenn beides zu bejahen wäre, würde die Forderungsabtretung an die Inkassounternehmen nicht gegen das Verbot der Erbringung unerlaubter Rechtsdienstleistungen verstoßen und wäre somit nicht gem. § 134 BGB i.V.m. § 3 RDG nichtig.
3. Instanzenzug und bisherige Entscheidungen
Das KG Berlin (Urteil vom 03. April 2020 – 14 U 156/19 –) verneinte die Aktivlegitimation des Inkassounternehmens. Dieses habe seine gem. § 10 I 1 Nr. 1, § 2 II 1 RDG eingeräumte Kompetenz überschritten. Zum einen sei die Abtretung der Forderungen von Anfang an auf eine gerichtliche Geltendmachung in Form einer Sammelklage und nicht auf eine vorherige außergerichtliche Durchsetzung (mit einem eventuell anschließenden Gerichtsverfahren) ausgerichtet gewesen. Das Handeln des Unternehmens sei somit nicht von der Erlaubnis zur Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen gedeckt.
4. Höchstrichterliche Entscheidung
Der BGH widersprach der Rechtsauffassung des Kammergerichts. Der Inkassobegriff des § 10 I 1 Nr. 1, § 2 II 1 RDG umfasse auch Geschäftsmodelle, die ausschließlich oder vorrangig auf die gerichtliche Geltendmachung von Forderungen ausgerichtet sind, auch wenn dies in Form eines sog. Sammelklage-Inkasso erfolgen soll. Der vom RDG bezweckte Schutz der Rechtssuchenden, des Rechtsverkehrs und der Rechtsordnung erfordere kein Verbot des Sammelklage-Inkassos. Dieser Schutz sei durch den erforderlichen Sachkundenachweis der Inkassounternehmen sowie der zwingenden Vertretung durch einen Anwalt oder eine Anwältin vor Gericht ausreichend gewährleistet. Mögliche Interessenkonflikte durch die gebündelte Geltendmachung von Ansprüchen seien nicht ersichtlich. Zwar sei es gerade im Rahmen von Vergleichen denkbar, dass einzelne Anspruchsinhaber oder -inhaberinnen mit höheren Erfolgsaussichten zugunsten Personen mit niedrigeren Erfolgsaussichten benachteiligt würden. Jedoch überwögen die Vorteile der gebündelten Geltendmachung für den einzelnen Kunden oder die einzelne Kundin den denkbaren Nachteilen aus einem nicht optimalen Vergleich. Desgleichen gäbe es kein Interessenskonflikt zwischen Inkassounternehmen/ Prozesskostenfinanzierer und den Kundinnen- und Kunden, da beide auf eine möglichst hohe Summe abzielen würden. Somit sind nach Ansicht des BGHs Sammelklage-Inkassoverfahren grundsätzlich zulässig und das Inkassounternehmen somit aktivlegitimiert.
II. Ähnliche Urteile
1. "financialright" - BGH (Urt. v. 13.06.2022 - Az. VIa ZR 418/21)
Auch in dem sog. „financialright“-Urteil des BGH stand die Zulässigkeit von Sammelklagen-Inkasso in Frage. Das namensgebende Legal-Tech Unternehmen hatte hier massenhaft Schadensansprüche gegen VW im Rahmen des Abgas-Skandals geltend gemacht. Verkompliziert wurde der Fall dadurch, dass es um Ansprüche von Autokäufern aus der Schweiz ging, es also zusätzlich fraglich war, ob financialright zur Durchsetzung von Ansprüchen nach ausländischem Recht berechtigt war.
Die Vorinstanzen LG Braunschweig (Urt. V. 30.4.2020 – Az. 11 O 3092/19) und OLG Braunschweig (Urt. V. 07.10.2021 – Az. 8 U 40/21) verneinten dabei jeweils die entsprechende Sachkunde, da financialright nur eine Erlaubnis zur Erbringung von Inkassodienstleistungen gem. § 10 I Nr. 1 RDG besaß, nicht jedoch für die Erbringung von Rechtsdienstleistungen in ausländischem Recht gem. § 10 I Nr. 3 RDG registriert war.
Der BGH widersprach in seinem Urteil dieser Auffassung. Die Erlaubnis gem. § 10 I Nr. 1 RDG umfasse nicht nur die Erbringung von Rechtsdienstleistungen in inländischem Recht, sondern auch in ausländischem Recht. Diesbezüglich ständen die Erlaubnistatbestände des § 10 I Nr. 1 RDG und § 10 I Nr. 3 RDG nebeneinander und würden sich nicht gegenseitig ausschließen.
Der BGH äußerte sich im Rahmen seines Urteils zudem auch ausführlich und deutlich zur grundsätzlichen Zulässigkeit von Inkasso-Sammelklagen. Grundsätzlich seien diese von § 10 I Nr. 1 RDG erfasst. Nur ausnahmsweise könne trotzdem eine verbotene Rechtsdienstleistung i.S.d. § 3 RDG vorliegen, wenn ein gem. § 4 RDG bedeutsamer Interessenkonflikt vorläge. Dies könnte etwa dann der Fall sein, wenn so heterogene Forderungen zusammengefasst werden würden, dass Geschädigte mit hohen Erfolgsaussichten in einen für sie ungünstigen Vergleich gedrängt werden würden, um so die geringen Erfolgsaussichten anderer Geschäfigter „auszugleichen“. Dies läge jedoch im vorliegenden Fall nicht vor, da die Interessen der Autokäufer zum Zeitpunkt der Klagebündelung gleichlaufend waren und die geltend gemachten Forderungen zumindest zum Zeitpunkt der Klageerhebung ähnliche Erfolgsaussichten gehabt hatten. Auch der Einsatz eines Prozessfinanzierers führe nicht zu einem relevanten Interessenkonflikt i.S.d. § 4 RDG durch eine Kollision der Interessen der Anspruchsinhaber und des Prozessfinanzierers.
Hiermit hat der BGH zum einen die Legal-Tech Unternehmen in Bezug auf die Durchsetzung ausländischer Forderungen gestärkt, zum anderen auch die Zulässigkeit von Sammelklagen-Inkasso zumindest im Hinblick auf den Abgasskandal klargestellt.
2. Durchsetzung kartellrechtlicher Ansprüche mittels Inkasso-Sammelklage
Weiterhin stark umstritten bleibt die Durchsetzung kartellrechtlicher Ansprüche mittels Inkasso-Sammelklagen. Problematisch ist auch hier wiederum die Reichweite des Sachkundenachweises der Inkassounternehmen und somit, ob kartellrechtliche Inkasso-Sammelklagen von dem Erlaubnistatbestand des § 10 I 1 Nr. 1 RDG i.V.m. § 2 II 1 RDG gedeckt sind. Besonders umstritten ist dies, da kartellrechtliche Ansprüche meist in komplexen Verfahren verhandelt werden, die oft von spezialisierten Kanzleien mit hohem Gutachteraufwand geführt werden. Angesichts dessen haben verschiedene niedere Instanzen die Klagen von Legal-Tech Unternehmen (u.a. wieder financialright) abgewiesen (LG München I (Urt. V. 07.02.2020, Az. 37 O 18934/179); LG Stuttgart (Urteil vom 20. Januar 2022 – 30 O 176/19)). Begründet wurde dies damit, dass kartellrechtliche Ansprüche generell nicht durch Durchsetzung mittels Inkasso-Sammelklagen geeignet seien, und andererseits, dass die gebündelten Ansprüche in diesen Verfahren zu heterogen seien und damit zu große Interessenskonflikte zwischen den einzelnen Geschädigten zu groß seien. Ob dies der Überprüfung in den höheren Instanzen standhalten wird, erscheint aber auch angesichts der Rechtsprechungslinie des BGH fraglich. Zumindest erste Urteile höherer Instanzen legen nahe, dass auch die Durchsetzung kartellrechtlicher Ansprüche mittels Inkasso-Sammelklagen ein zulässiges Betätigungsfeld für Legal-Tech Unternehmen ist (siehe hierzu OLG München (Urt. V. 28.03.2024 - 29 U 1319/20)).
III. Fazit
Die Zulässigkeit des Sammelklage-Inkasso ist wohl zunehmend geklärt. Ausgehend vom „Airdeal“-Urteil des BGH und den neueren Urteilen diesbezüglich wird man die grundsätzliche Zulässigkeit von Sammelklage-Inkasso wohl bejahen müssen, auch wenn sich diese Ansicht nur zögerlich in den niederen Instanzen durchsetzt. Weiterhin umstritten wird wohl aber die Zulässigkeit des Sammelklage-Inkassos in einzelnen Rechtsgebieten bleiben, die sich durch eine hohe Komplexität auszeichnen. Hier stellt sich wieder die schon vom Verbraucher-Inkasso bekannte Frage nach der Reichweite des Sachkundenachweises der Inkasso-Unternehmen und der damit verbundenen Reichweite der Erlaubnis gem. § 10 I 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 II 1 RDG. Doch auch hier zeichnet sich, zumindest auf dem Gebiet des Kartellrechts, eine Liberalisierung zugunsten der Legal-Tech Unternehmen ab.
C. Vertragsdokumentengeneratoren
Eine weitere vielbeachtete Rechtsstreitigkeit bezüglich der Zulässigkeit von Legal Tech Angeboten spielte sich in Bezug auf sog. Vertragsdokumentengeneratoren rund um das Angebot der Internetseite smartlaw.de ab
I. Smartlaw - BGH (Urteil vom 09.09.21, Az. I ZR 113/20)
1. Sachverhalt
Auf der Webseite www.smartlaw.de bietet die Wolters Kluwer Deutschland GmbH, zu der z.B. auch LTO gehört, einen Vertragsgenerator an, mit dem Verbraucher und Verbraucherinnen sich mit Hilfe eines Frage-Antwort-Katalogs bestimmte, individuelle Rechtsdokumente generieren können. Eine individuelle – menschliche – Prüfung durch den Anbieter findet nicht statt. Die Rechtsanwaltskammer (RAK) Hamburg hatte gegen die Vertragssoftware ein wettbewerbsrechtliches Verfahren eingeleitet. Zum einen sei die Werbung für den Vertragsgenerator ("günstiger und schneller als der Anwalt" bzw. "Rechtsdokumente in Anwaltsqualität“) unzulässig, zum anderen verstoße das Angebot gegen das RDG, weil solche Dienstleistungen nur Rechtsanwälte erbringen dürften.
2. Rechtliche Fragestellung
Fraglich war, ob die automatische Erstellung der personalisierten Vertragsdokumente als Rechtsdienstleistung i.S.d. RDG einzuordnen ist. Wäre dies der Fall, hätte smartlaw gegen das Verbot außergerichtlicher Rechtsberatung gem. § 3 RDG verstoßen. In diesem Fall wäre der Erlaubnistatbestand bezüglich Inkassodienstleistungen gem. § 10 I S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 II Nr. 1 RDG auch nicht einschlägig gewesen, da smartlaw keinerlei Forderungseinziehung für die Nutzenden betrieb.
3. Instanzenzug und bisherige Entscheidungen
Das LG Köln hatte der Klage vollumfänglich stattgegeben. In dem Vertragsgenerator sah es einen Verstoß gegen das RDG. Einen Vertrag durch eine Software generieren zu lassen, die vorher entsprechend programmiert wurde, sei wie eine Rechtsdienstleistung durch einen Rechtsanwalt anzusehen. Gegen dieses Urteil hat die Wolters Kluwer Deutschland GmbH Berufung eingelegt.
Das OLG Köln entschied, dass die Beklagte mit dem Dokumentengenerator keine erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung nach den §§ 2 I RDG erbringt. Dabei lehnte das OLG eine Rechtsdienstleistung sowohl durch die Programmierung und Bereitstellung des Dokumentengenerators als auch durch die letztliche Anwendung des Generators durch die Nutzer und Nutzerinnen ab. Nach dem Tatbestand des § 2 I RDG ist eine Rechtsdienstleistung eine Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert. Die Bereitstellung selbst fällt schon deshalb nicht darunter, weil keine Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten vorliegt. Aber auch die Nutzung des Generators durch die Anwender und Anwenderinnen fällt nicht darunter, da es hier an der Zurechnung des Rechenvorgangs des Computers an die Beklagte fehle.
4. Höchstrichterliche Entscheidung
Der BGH stimmte dem OLG zu und verneinte eine unzulässige Rechtsberatung durch smartlaw. Zwar stelle das Programmieren und Bereitstellen des Computerprogramms sowie die Verwendung des Programms eine Tätigkeit i.S.d. § 2 I RDG dar. Diese finde jedoch entgegen § 2 I RDG nicht in konkreten, fremden Angelegenheiten statt. Zwar erfolge die Erstellung der Dokumente in fremden Angelegenheiten, jedoch nicht auf einen konkreten Sachverhalt gerichtet. Das Computerprogramm erfasse nicht einen individuellen realen Fall, sondern nur die allgemeinen, üblicherweise auftretenden Fragestellungen. Dies sei auch für die Nutzenden erkennbar, sie würden somit keine an ihrem persönlichen Fall ausgerichtete Fallberatung erwarten. Somit stelle der Vertragsdokumentengenerator keine Rechtsdienstleistung i.S.d. § 2 I RDG dar.
II. Fazit
Das Urteil des BGHs schaffte in Bezug auf die Zulässigkeit von Vertragsdokumentengeneratoren Klarheit. Diese sind grundsätzlich nicht als Rechtsdienstleistung i.S.d. RDG anzusehen und unterfallen somit auch nicht dem generellen Verbot des § 3 RDG. Die Auffassung des BGH erscheint schlüssig, insbesondere weil sie die Ähnlichkeit der Vertragsdokumentengeneratoren zu bereits seit langem existierenden Formularhandbüchern und Musterverträgen einbezieht. Es erscheint jedoch möglich, dass diese Einordnung dann von der technischen Entwicklung überholt wird, wenn die solche oder ähnliche Programme eigenständige Sachverhaltsanalysen durchführen können und nicht mehr von den Eingaben des Nutzers anhand eines Frage-Antwort-Katalogs abhängig sind. Hier könnte eventuell die Grenze zur Tätigkeit in konkreten Sachverhalten überschritten werden. Bis dahin ist jedoch die Rechtslage klar.
D. Ausblick
Die Rechtsprechung im Bezug auf Legal-Tech Unternehmen ist von starken Liberalisierungstendenzen geprägt. Viele umstrittene Rechtsfragen wurden zugunsten der Zulässigkeit von Legal-Tech-Angeboten entschieden. Dies ist grundsätzlich unter dem Hinblick des Verbraucherschutzes und des Zugangs zum Recht zu begrüßen (dazu später mehr im Dossier „Zugang zum Recht“). Jedoch dürfen auch bestimmte Risiken, insbesondere durch „Schwarze Schafe“, nicht außer Acht gelassen werden. Um diesen zu begegnen, hat der deutsche Gesetzgeber erst kürzlich die Aufsicht der Rechtsdienstleister nach dem RDG verstärkt (Gesetz zur Stärkung der Aufsicht bei Rechtsdienstleistungen und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 10.03.2023 – BGBl. I 2023, Nr. 64 vom 15.03.2023). Streitigkeiten darüber und auch über die Grenzen der Zulässigkeit von Legal-Tech-Angeboten werden die Gerichte wohl auch noch die nächsten Jahre stark beschäftigen.